Jungen lesen anders

Der nachfolgende Beitrag stammt mit freundlicher Genehmigung von Lucas Schoppe. Lucas Schoppe ist Lehrer. Der Beitrag erschien zuerst auf www.man-tau.com

Am Wochenende saß ich wieder einmal mit einem Freund zusammen, der wie ich Lehrer ist und mit dem ich schon einmal einen Text für man tau gemeinsam geschrieben hatte: Über den Umgang mit Jungen, über unsere Erfahrungen mit Jungen in der Schule. Schließlich sind die spezifischen Schwierigkeiten von Jungen an und mit der Schule schon lange bekannt, werden aber kaum einmal zum Thema der Bildungspolitik. Der Erziehungswissenschaftler Markus Meier dazu:

„Aber es interessiert irgendwie auch niemanden, es geht nur um das ‘Aufholen’ der Mädchen. Das Thema will niemand wahrhaben.“

Zudem werde der „literacy-Nachteil“ – die Nachteile in der Lesekompetenz – von Jungen kaum einmal angesprochen, obwohl er etwa viermal so hoch sei wie umgekehrt die häufig thematisierten spezifischen Nachteile von Mädchen im Fach Mathematik. Dabei sei ja gerade die geringere Kompetenz im Lesen noch deutlich bedeutender als ein Nachteil in der Mathematik – geringere Fähigkeiten im Lesen wirken sich schließlich nicht nur auf alle Fächer aus, sondern seien auch „lebenstechnisch“ bedeutsamer.

Wir habe also am Wochenende gesammelt, welches aus unserer Erfahrung Gründe für die deutlich schlechteren Leseleistungen von Jungen sind – und was getan werden kann, um diese Leistungen zu verbessern, und um auch den Jungen Spaß am Lesen zu verschaffen. Dabei ist eine weit verbreitete Erklärung in unseren Augen schlicht falsch.

1. Warum lesen Jungen weniger als Mädchen?

Haben Jungen keine Empathie? Mädchen würden sich beim Lesen auch in Jungen- oder Männerfiguren hineinversetzen, Jungen sich aber nicht in Mädchen- oder Frauenfiguren. Da aber nun einmal in einer modernen Pädagogik, die beiden Geschlechtern gerecht wird, auch Bücher mit weiblichen Heldinnen gelesen werden, würden Jungen im Unterschied zu Mädchen bei einem guten Teil der Lektüren aussteigen.

Aus der Erfahrung im Unterricht lässt sich diese Meinung nicht bestätigen. Jungen versetzen sich sehr wohl und durchaus selbstverständlich auch in Mädchenfiguren hinein. Wir haben zum Beispiel beide schon die Erfahrung gemacht, dass Lutz Hübners (mittlerweile schon etwas veraltetes) Stück Creeps – in der lediglich drei Mädchen bei einem Casting auftreten – auch Jungen begeistern kann. Heldinnen wie Lindgrens Ronja Räubertochter sprechen ganz selbstverständlich auch Jungen an.

Die Vorstellung, Jungen würden sich nicht mit weiblichen Figuren identifizieren, verrät wohl einen durchaus traditionellen und tendenziell auch ressentimentgeladenen Blick auf sie: Jungen nämlich wären weniger als Mädchen fähig oder bereit zur Empathie.

Sind Jungen reaktionär?

Das ist ebenso wenig richtig wie die Vorstellung, Jungen würden sich stark an traditionellen Männerbildern orientieren und nicht von ihnen abweichen, während Mädchen deutlich offener mit Geschlechterrollen umgingen. Dagegen sprechen schon viele Buchreihen, die gezielt, und bei vielen Mädchen mit großem Erfolg, sehr klischeehafte und traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit bedienen.

Bücher oder auch Filme, deren Protagonisten von typischen männlichen Rollen abweichen, können zudem nach unserer Erfahrung problemlos im Unterricht eingesetzt werden und interessieren Jungen nicht weniger als Mädchen. Das betrifft etwas einen Film wie Billy Elliot in der Mittelstufe, in der ein Junge statt Boxen das Ballettanzen erlernt – oder The Crying Game in der Oberstufe, in dem eine IRA-Geschichte mit dem Thema der Transsexualität verknüpft wird. (Zu diesen Filmen hatte ich hier schon einmal geschrieben).

Wenn auffällig viele Jungen aus der Lektüre von Büchern aussteigen, hat das in der Regel andere Gründe.

Die Grenze zur Welt der Erwachsenen

Perdita Wingerter, Geschäftsführerin von Pro familia in Passau, berichtet von einem „Vätervorleseprojekt“. Kinder würden erleben, dass Lesen „überwiegend Frauensache“ sei – und Jungen würden so den Eindruck gewinnen, das Lesen gehe sie weniger als die Mädchen.

„Väter können also entschieden dazu beitragen, Jungen zum Lesen zu motivieren.“

Das fehlende Vorbild lesender Männer ist sicherlich ein spezifisches Problem für Jungen, tatsächlich aber fehlen Väter ja nicht nur als Lesevorbilder. Dass viele Jungen „ohne einen Elternteil, meistens ohne einen Vater“, aufwachsen, bringt schon Alexander Ulfig mit dem geringeren Leseinteresse von Jungen in Verbindung.

Das trifft natürlich auch Mädchen, hat aber für sie andere Folgen. Es setzt sich zudem in der Schule fort – auch in der Grundschule erleben Kinder kaum männliche Erwachsene. So haben sie oft erst weit nach der Hälfte ihrer Kindheit und Jugend, wenn sie mit elf Jahren auf eine weiterführende Schule wechseln, einen stabilen Kontakt zu männlichen Erwachsenen – und auch dort wird der Männeranteil kontinuierlich geringer.

Das Lesen steht für eine wesentliche Grenze zwischen der Kinderwelt und der Erwachsenenwelt. Wer nicht lesen kann, dem bleiben wesentliche Aspekte der Erwachsenenwelt verschlossen – das gilt für das bloße Entziffern von Wörtern, das gilt dann für das sinnentnehmende Lesen kürzerer Texte, schließlich auch für das Lesen komplexer Texte. Wenn Jungen ein deutlich geringeres Interesse am Lesen zeigen als Mädchen, dann drückt sich darin auch ein deutlich geringeres Interesse daran aus, die Welt der Erwachsenen zu betreten, sie kennen zu lernen und sich in ihr zu behaupten.

Das ist nachvollziehbar. Da die Erwachsenenwelt, die Kinder erleben, zunehmend eine homogen weibliche Welt ist, können Mädchen ihre Identität im Rahmen dieser Welt entwickeln – Jungen aber müssen sich zum selben Zweck von ihr distanzieren. Auch dass sie in hohem Maße auf Computer ausweichen, lässt sich so erklären. Im Bildschirmspiel haben sie nicht nur Spielräume, die sie in der realen Welt nicht haben. Sie betreten auch eine eigene Welt, die Erwachsenen meist verschlossen ist – ein großer Teil der Kinder kennt sich mit Computern, und zumal mit Spielen, besser aus als die eigenen Eltern.

Anstatt also die unbekannte Welt der Erwachsenen zu betreten und dazu – weil das ein wesentlicher Aspekt dieser Grenzüberschreitung ist – lesen zu lernen, ziehen sie sich in eine Welt zurück, die einem großen Teil der Erwachsenen unbekannt ist.

Jungen als Problem

Dieser Rückzug ist für sich nicht einmal problematisch, er zeigt sogar, mit welch großer Vitalität sich Kinder auch auf ungünstige Bedingungen der Erwachsenenwelt einstellen können. Der Rückzug endet aber in einer Sackgasse, weil Erwachsene in alle Regel nicht die spezifischen Probleme von Jungen, sondern stattdessen Jungen als Problem wahrnehmen.

Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass Jungen in der Schule zurückfallen – es ist stillschweigend geteiltes, aber selten diskutiertes Wissen in den Schulen. An den Universitäten und in der Lehrerausbildung spielt es praktisch keine Rolle, ebenso wenig in der Bildungspolitik. Der Grund ist nicht nur ein großes Desinteresse der verantwortlichen Erwachsenen, sondern auch das Bemühen zahlreicher Akteure, das stillschweigende Wissen um die Probleme von Jungen nicht zum Thema allgemeiner Diskussionen werden zu lassen.

Stereotyp wird dabei die These aufgestellt, mögliche Schwierigkeiten von Jungen würden darauf beruhen, dass sie in einer sich wandelnden und öffnenden Welt an traditionellen Männlichkeitskonzepten festhielten – so Thomas Viola Rieske für die GEW, Marcel Helbig für das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung oder die Professorinnen Helene Decke-Cornill und Carola Surkamp in einem Fachmagazin für den Englischunterricht. Erwachsene idealisieren hier jeweils die Erwachsenenwelt, stellen sie sich als offen und progressiv vor, während sie die männlichen Kinder gleichsam als reaktionäre Bremsklötze imaginieren, die durch ihr Festhalten an überlebten Modellen selbst die Verantwortung für Schwierigkeiten trügen.

Tatsächlich haben diese Positionen eine ähnliche Funktion wie die Beiträge von Wissenschaftlern, die in den Fünfziger Jahren im Auftrag der Tabakindustrie systematisch die vorhandenen Informationen über die Schädlichkeit des Rauchens in Zweifel zogen oder sie umdeuteten. Es geht jeweils gar nicht darum, eine stichhaltige Position zu entwickeln, auf deren Basis alle Beteiligten sinnvoll agieren können – sondern darum, Besitzstände zu verteidigen, indem so lange wie möglich verhindert wird, dass ein stillschweigend verbreitetes Wissen zum Gegenstand allgemeiner Diskussionen werden kann.

Es ist illusorisch zu denken, dass eine Leseförderung an den Schulen alle Konsequenzen solcher erheblichen bildungs-, familien- und wissenschaftspolitischen Fehlleistungen auffangen könnte. Gleichwohl können Schulen vieles tun, um diese Konsequenzen zu lindern.

2. Was können wir in den Schulen tun?

Handlungsfähige Helden

Deutlich wichtiger noch als für Mädchen ist es nach unserer Erfahrung für Jungen, dass ein Buch handlungsstark ist, also eine nachvollziehbare, spannende, vielleicht auch actionreiche äußere Handlung hat. Die Protagonisten müssen nicht unbedingt männlich, aber sie müssen handlungsfähig sein. Jungen würden sich, kurz gefasst, mit Katniss Everdeen aus den Hunger Games eher identifizieren als mit Bella Swan aus der Twilight-Reihe – die tatsächlich fast ausschließlich von Mädchen gelesen wird.

Bella ist ihrem geliebten Vampir Edward hoffnungslos unterlegen, und sie wird von ihm nur deshalb nicht getötet, weil er dies nicht will und seinen ungeheuren Drang nach ihrem Blut kontrollieren kann. Wäre das nicht so, hätte sie keine Chance, sich zu wehren. Zudem verbringt sie gleich seitenweise ihre Zeit damit, etwa darüber nachzugrübeln, warum Edward sie in der Schule ein Mal wütend angeschaut hat.

Katniss hingegen ist selbstständig, wehrhaft, trickreich, und sie hat gelernt, sich auf sich selbst zu verlassen.

Bücher, in denen das innere Erleben der Protagonisten im Mittelpunkt steht und die äußere Handlung kaum eine Rolle spielt, lassen insbesondere Jungen auch dann kalt, wenn die Protagonisten männlich sind. Dass solche Bücher aus der Perspektive erwachsener Leser oft als anspruchsvoller und wertvoller gelten als actionreiche Texte, hat Gründe, die mit der Lesefreude von Jungen nichts zu tun haben. Es sind in aller Regel Bücher für sehr geübte Leser, die von den Andeutungen eines inneren Erlebens auf die Zusammenhänge der gesamten Handlung schließen können.

Vor allem spiegelt sich in der Geringschätzung äußerer Handlung auch eine soziale Spaltung – Bücher, die wie Texte von Peter Handke oder Botho Strauß fast ausschließlich aus der Reflexion inneren Erlebens bestehen, sind in aller Regel auch nur für Menschen interessant, deren eigene Tätigkeit eher reflexiv als körperlich ist. Es sind akademische Bücher für ein akademisches Publikum.

Bruno Bettelheim erläutert in seinem Klassiker Kinder brauchen Märchen, dass eine wesentliche Funktion von Geschichten für Kinder darin besteht, ihnen Möglichkeiten zu verschaffen, verschiedene Weisen des Handelns in der Welt durchzuspielen. Zudem verschaffe ihnen das Lesen auch das Zutrauen, selbst große Schwierigkeiten überwinden und auch verzweifelte Situationen klären zu können – daher auch das rituell gute Ende von Märchen.

Dass das Jungen noch wichtiger ist als Mädchen, deutet wohl darauf hin, dass Jungen sich weiterhin deutlich stärker als Mädchen darauf einstellen, sich in der Welt behaupten zu müssen. Wer auch Mädchen in diesem Sinne stärken möchte, sollte also weniger versuchen, Jungen zur Anpassung an Lesegewohnheiten von Erwachsenen, oder von Mädchen, zu bewegen. Sinnvoller ist es, in der Auswahl von Lektüren die Vorlieben von Jungen ernst zu nehmen und damit zu rechnen, dass sie durchaus auch für Mädchen förderlich sein können.

Tatsächlich habe ich diesen Rat schon vor zwölf Jahren im Referendariat von einer Ausbilderin bekommen. Wir würden die Jungen verlieren, sagte sie, damals schon – und sollten bei der Lektüreauswahl für die Schule immer darauf achten, Bücher für Jungen auszuwählen. Mädchen nämlich würden diese Bücher auch gern lesen – umgekehrt Jungen aber nicht unbedingt spezifische Mädchenbücher.

Wer jedenfalls Bücher mit handlungsunfähigen Protagonisten auswählt, tut dies weder im Interesse von Jungen noch in dem von Mädchen. Sehr ungünstig ist zum Beispiel in dieser Hinsicht die klassische Deutsch-Lektüre Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter. Es mag ja gut gemeint sein, anhand dieser Geschichte einer jüdischen Familie und eines jüdischen Jungen im Nationalsozialismus den Schülern die Geschichte des Holocaust nahe zu bringen. Da Friedrich aber rundweg handlungsunfähig bleibt, mutlos, gebrochen, ist er eben keine Identifikationsfigur. Wer als Kind dieses Buch liest und Möglichkeiten des Handelns im eigenen Leben durchspielen möchte, wird sich mit dem nichtjüdischen deutschen Freund von Friedrich identifizieren, aber gegenüber Friedrich Distanz halten. Die Lektüreauswahl erreicht damit eben das Gegenteil des Gewollten.

Neue Welten

Zum Handeln in der Welt gehört auch ein Interesse daran, wie die Welt funktioniert. Als eines der Kriterien für eine Bücherauswahl, die Jungen anspricht, nennt die Publizistin Katrin Müller Walde, dass diese Bücher informativ sein sollten. Das bedeutet nicht, dass nun vor allem Sachbücher für den Deutschunterricht ausgewählt werden müssten – auch wenn es eine gute Idee sein kann, Kindern die Möglichkeit zu geben, Sachbücher im Unterricht vorzustellen.

Auch fantastische Welten, Science-Fiction-Geschichten, möglicherweise auch Geschichten aus einem anderen Zeitalter können gerade für Jungen sehr interessant sein. Schließlich muss in solchen Büchern zwangsläufig eine halbwegs schlüssig funktionierende Welt entworfen werden.

Nach meiner Erfahrung werden solche Geschichten wiederum für viele Mädchen erst dann uninteressant, wenn der technische Aspekt dabei sehr weit in den Vordergrund tritt. Ich habe es zwei Mal – einmal bei einem Buch, einmal bei einem Film – erlebt, dass Jungen davon begeistert waren, Mädchen aber desinteressiert den Kopf schüttelten.

Das eine Mal bei der Lektüre von Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis, von dem ein Junge hinterher meinte, es sei das beste Buch, das er jemals in der Schule gelesen habe. Viele Mädchen hingegen fanden die schräge Technik-Fixierung und den durchgehend überdrehten Humor des Buches regelrecht bekloppt.

Ähnlich groß klaffte die Lücke bei dem Film Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt, der eine Adoleszenz-Geschichte als ein überdrehtes Bildschirmspiel zeigt.

Eine ähnliche Diskrepanz zwischen der Ablehnung durch Mädchen und der Freude von Jungen habe ich übrigens umgekehrt niemals bei einem Buch oder Film erlebt – auch nicht, z.B., bei dem Film Juno über die Schwangerschaft eines jungen Mädchens. Auch wenn die junge Juno deutlich im Mittelpunkt steht, waren Jungen daran nicht weniger interessiert als Mädchen – schließlich kann das Thema auch sie betreffen.

Humor

Dass die Lektüre humorvoll sein solle, ist ein weiteres Kriterium, das Müller-Walde nennt. Natürlich müssen nicht alle Lektüren witzig sein, es hilft aber ungemein. Genussvolles oder begeistertes Lesen hat häufig etwas Spielerisches – die Anforderungen des Unterrichts hingegen sind für viele Kinder ernst, manchmal auch belastend. Humor ist nützlich, um dazu etwas Distanz aufbauen zu können.

Humor vermittelt zudem Leichtigkeit und kann Kinder bestärken in dem Vertrauen, dass selbst aussichtslos erscheinende Situationen gemeistert werden können.

Identität

Dass ein Schwerpunkt bei der Lektüre von Jungen auf einer starken äußeren Handlung liegt, bedeutet nicht, dass inneres Erleben für sie uninteressant wird. Die Frage nach der eigenen Identität, dem eigenen Ort in der Welt ist für Jungen gewiss nicht weniger wichtig als für Mädchen. Eines von vielen möglichen Beispielen ist Kevin Brooks’ Being, das die Frage nach der eigenen Identität als fantastische Geschichte durchspielt – aus der Perspektive des Jungen Robert, der merkt, dass er ein Androide ist. (Mir persönlich gefällt von Brooks das Buch Lucas allerdings besser…)

Dabei ist auffällig, wie viele Bücher oder Comics Protagonisten haben, deren Existenz gespalten ist zwischen einem Leben in der gewöhnlichen Normalität und einer fantastischen Existenz. Kinder können ein sehr braves und angepasstes Leben führen, ihre anarchischen und wilden Impulse aber auf Freunde regelrecht auslagern – so wie in den Büchern Astrid Lindgrens Thomas und Annika Pippi Langstrumpf haben, so wie Lillebror den Karlsson von Dach hat oder in Rüdiger Bertrams COOLMAN und ich der Junge Kai den imaginären, narzisstisch-überdrehten Superhelden Coolman.

Wiederkehrend ist auch das Muster eines Jungen, der in der gewöhnlichen Realität keine Rolle spielt, in einer fantastischen Welt aber ein Held ist – so wie Michael Endes Bastian Balthasar Bux, der in der Unendlichen Geschichte zum Helden wird – oder Lindgrens Bosse in Mio mein Mio, der als abgelehntes Kind bei Tante und Onkel lebt und als Mio in einer fantastischen Welt seinen Vater vor dem bösen Ritter Kato rettet – oder natürlich Harry Potter, der in der Familie seiner Tante in einem Verschlag unter der Treppe leben muss und der in der Zauberschule von Hogwards die ganze Welt rettet.

Klassische Doppelexistenzen sind natürlich auch die Superhelden – der unscheinbare Nerd Peter Parker beispielweise, der durch den Biss einer Spinne übernatürliche Kräfte bekommt.

All diese unterschiedlichen Doppelexistenzen geben Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, einerseits ihr Leben im Rahmen der alltäglichen Normalität zu spiegeln, andererseits aber Möglichkeiten durchzuspielen, die weit über diesen Rahmen hinausweisen. Wenn am Ende von Mio mein Mio der Titelheld wieder allein auf einer Parkbank sitzt, dann können erwachsene Leser traurig annehmen, dass seine Heldengeschichte vorher bloß eine Fantasie war – in der Lektüre aber ist sie nicht weniger real als das Leben im Alltag Stockholms.

Auch hier spielen Kinder Möglichkeiten des Handelns in der Welt durch, Möglichkeiten, mehr zu erreichen, als sie zunächst erwartet hätten – und Möglichkeiten, über die Bedingungen hinauszuwachsen, die sie umgeben. Die Frage nach der eigenen Identität und die Frage nach der eigenen Handlungsfähigkeit sind jeweils sehr eng verknüpft – innere Reflexion und eine starke äußere Handlung stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern bedingen sich gegenseitig. Das hat offensichtlich für Jungen eine ganz besonders große Bedeutung.

Unterricht

Wenn es stimmt, das Jungen die Einpassung in eine weiträumig als weiblich erlebte Erwachsenenwelt schwerer fällt als Mädchen, dann hat das auch Konsequenzen für die Gestaltung des Unterrichts und für den Umgang mit dem Lesen.

Den Kindern und Jugendlichen bei der Lektüre Standards geisteswissenschaftlich gebildeter Erwachsener aufzuerlegen, ist vor diesem Hintergrund besonders deplatziert. Das bedeutet nicht, dass keine Klassiker gelesen werden sollen – aber dass die Lektüre der Kinder nicht unnötig begrenzt werden sollte.

Kinder müssen nicht auf Texte verpflichtet werden, die in den Augen Erwachsener qualitativ hochwertig sind. Grundsätzlich gilt: Wenn Kinder eine Sorte von Texten ausdauernd lesen, dann erfüllt das auch eine sinnvolle Funktion für sie. Ob es sich dabei um Comics oder um Romane, um Abenteuergeschichten oder Fußballerbiographien handelt, ist zweitrangig – wichtiger ist, dass die Kinder und Jugendlichen eine Freude am Lesen erleben.

Auch die Art und Weise, wie sie in der Schule mit Texten umgehen, muss ihnen Freiheiten lassen. Es gibt Standardaufgaben des Deutschunterrichts, so zum Beispiel die künstliche und außerhalb der Schule nirgends gebräuchliche Textform der Inhaltsangabe (die etwa die willkürliche Regel enthält, dass beim Verfassen des Textes keine Zitate verwendet werden dürfen), die Lesefreude eher verhindern als fördern. Wir kennen Beispiele, in denen Kinder stereotyp nach jedem gelesenen Kapitel eine Inhaltsangabe verfassen mussten: Es gibt wohl kaum einen Erwachsenen, dem eine solche Aufgabe nicht das Lesen verderben würde.

Die Schulen können freies Lesen fördern, so wie das der Leseexperte Frank Maria Reifenberg vorschlägt. Die Schüler können auch auf eine Weise mit Texten umgehen, die ihnen Freiheiten lässt. Wir haben gute Erfahrungen gemacht mit Sets von Aufgaben, aus denen die Schüler sich nach bestimmten Vorgaben selbst die Aufgaben auswählen können: zum Beispiel Comics zu bestimmten Szenen zu zeichnen, oder Werbetrailer zum Buch herzustellen, oder Szenen als Fotofolge oder kurze Filme zu inszenieren, oder Szenen mit Musik einzusprechen, oder Szenen aus anderer Perspektive neu zu erzählen…. Der Methodenreichtum des Deutschunterrichts ist mittlerweile sehr groß, und er lässt sich nutzen, um Kindern Spielräume im Umgang mit Texten zu verschaffen, die heutige Erwachsene in ihrem Deutschunterricht oft nicht erlebt haben.

Diese Spielräume sind noch aus einem anderen Grund wichtig: Sie vermitteln Kindern Vertrauen von Erwachsenen. Eben das fehlt vielen, und Jungen auf eine spezifische Weise: Denn sie wachsen auf unter Rahmenbedingungen, in denen sie stereotyp von Erwachsenen nicht als Kinder in problematischen Situationen, sondern als problematische Kinder wahrgenommen werden.

Eine große Hilfe bei der Auswahl von Lektüren – für Klassen oder für die eigenen Kinder – kann die Jungenleseliste von MANNdat sein.