Interview mit Katrin Müller-Walde

Bildung braucht verlässliche Bindung

MANNdat im Interview mit Katrin Müller-Walde

Katrin Müller-Walde ist Dipl.Volkswirtin und Journalistin. Bundesweit bekannt wurde sie als Moderatorin der ZDF-heute-Nachrichten um 19.00 Uhr. 1998 ernannte sie das ZDF zur Redaktionsleiterin, nachdem sie zuvor als Reporterin und Filmemacherin für verschiedene Sendeformate von ARD und ZDF gearbeitet hatte. (heute-nacht, Frontal, Auslandsjournal, FM – Das Familienmagazin, Länderjournal, Kopfball) 1997 erhielt sie den Fernsehpreis Das Goldene Kabel.

2000 gründete sie das Medienberatungsunternehmen MW&P Consulting und lebte zwischen 2002 bis 2005 mit ihrer Familie in Washington, D.C. (USA). In dieser Zeit entstand auch das Buch Warum Jungen nicht mehr lesen und wie wir das ändern können. Damit setzte sie wichtige Impulse im Bereich Jungenleseförderung in Deutschland. (Die komplett überarbeitete Neuauflage erschien 2010 im Campus-Verlag.) Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland ist sie wieder als Moderatorin im Fernsehen tätig.

Ehrenamtlich engagiert sie sich sie als Vorsitzende der Initiative „Mentor – Die Leselernhelfer Bundesverband e.V.“

MANNdat: Frau Müller-Walde, warum engagieren Sie sich im Bereich Jungenleseförderung?

Katrin Müller-Walde: Ich beobachte mit Sorge, dass das Lesen in Deutschland zwar bundesweit propagiert, aber immer weniger mit Lust praktiziert wird. Hierzulande leben inzwischen 7,5 Millionen funktionale Analphabeten im erwerbsfähigen Alter. Das sind auch diejenigen, die schon vor zehn Jahren als Kinder nicht genug Geschichten gelesen haben.  Die wenigsten Eltern wissen überhaupt, dass sie selbst Einfluss darauf haben, ob ihre Kinder gern lesen. Jungen sind von der Misere im Vergleich zu  Mädchen deutlich mehr betroffen – mit allen Konsequenzen für die spätere Schul- , Berufs- und Lebensentwicklung.

Warum ist Lesekompetenz so wichtig?

Weil darunter mehr zu verstehen ist, als das Entziffern von Straßennahmen oder Preisschildern. Mit dem Lesen verbinden Leseforscher nicht nur Bildung im begrenzten Sinne von Wissensvermittlung, sondern  Menschenbildung. Über das schlichte Entziffern hinaus geht es um das Ausbilden von Empathie. Das Lesen von Geschichten – im Unterschied zu Internettexten oder Kurznachrichten – fordert und fördert gleichermaßen Einfühlungsvermögen. Kinder lernen beim Lesen von Romanen sich in Szenarien, Figuren und Lebensentwürfe einzufühlen, sich damit auseinanderzusetzen, eine Figur liebenswert, stark, heroisch oder abstoßend zu finden. Sie bilden sich so – im inneren Dialog –  eine Meinung über Ideen, Taten, Menschen. Sie finden zu sich und zu kulturellen Werten, bilden ihre Identität, letztlich ihren Lebensentwurf aus.

Hat mangelnde Lesekompetenz ausschließlich individuelle Auswirkungen auf ein Kind oder auch Auswirkungen auf die Gesellschaft?

Wer es nicht gewohnt ist, Texte zu lesen und zu verstehen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, Quellen richtig einschätzen zu können, sich eine Meinung zu bilden, … hat als Erwachsener in unserer Wissensgesellschaft nicht nur ein Bildungsproblem, sondern wir alle haben dann irgendwann ein Demokratieproblem.  Demokratie fußt auf dem mündigen Bürger. Wer nicht lesegeübt ist, kennt seine Grundrechte nicht, tut sich schwer auf Ämtern… macht sich nicht die Mühe, Parteiprogramme zu studieren, hinterfragt Politiker nicht, weiß dann auch  nicht,  wen er wählen soll…

Was ist der Grund für die in diversen Studien belegte geringere Lesekompetenz von Jungen?

Ein ganzer Strauß von Gründen führt letztlich zu dem Phänomen, das im Englischen Sprachraum „Boys` underachievement“ genannt wird. Jungen halten Lesen z.B. für weiblich und lehnen es deshalb ab. Von frühesten Kindertagen an treffen sie auf Frauen, die ihnen vorlesen, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Bibliothekarinnen, die das Buch propagieren. Selbst in Verlagen sitzen überwiegend Lektorinnen, die die Texte eher frauenaffin gestalten. Auch die Cover sind überwiegend für weibliche Käufer gemacht… das alles führt in jungen Jahren schon zu der gefühlten Erkenntnis: Wer ein richtiger Mann werden will, der macht erst Mal alles, nur nicht das, was Frauen häufig tun – Lesen. Das Buch wird also intuitiv aus dem Kinderzimmer verbannt. Das deutsche Schulsystem ist zudem, darüber sind sich die Parteien heute einig,  feminisiert. Jungen lesen auch deshalb in der Schule nicht gern. Hinzu kommt, dass das Buch noch nie soviel Konkurrenz bei den Freizeitbeschäftigungen  hatte. TV, Computer und elektronisches Spielzeug verschaffen Jungen schneller den Abenteuerkick als Bücher. Dann kommen Eltern leider häufig noch mit dem erhobenen Zeigefinger daher – unter dem Motto: „Lies doch mal was Anständiges. Nicht immer diese Comics.“ Das demotiviert Jungen. Weitere Gründe sind: In der Schule werden zu früh zu anspruchsvolle Texte gelesen. Kinder – Mädchen wie Jungen –  kommen heute weniger geschichtengeschult in die erste Klasse. Sie durchlaufen häufig später auch nicht mehr das Lesetraining, das es braucht, um Bücherlesen irgendwann als erholsam zu erleben und so weiter…

Betrifft die mangelnde Lesekompetenz von Jungen nur Grund- und Hauptschüler oder auch höhere Schulen?

Das Thema Leseinkompetenz ist bei Mädchen wie bei Jungen auch im Gymnasium längst angekommen. Inzwischen bieten Universitäten Lesekurse für BWL-Studenten an. Man fragt sich, wie diejenigen ihr Abi gemacht haben?

Was zeichnet ein Buch aus, das häufiger von Jungs gelesen wird?

Ein „gutes Jungenbuch“ muss drei Kriterien erfüllen. 1. spannend geschrieben sein, 2. über etwas informieren (Sterne, Chemie, Autos…)  und 3. sollte es humorvoll sein, also zum Beispiel in Umgangssprache geschrieben sein. Kommen diese drei Kriterien zusammen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein Buch „ankommt“.

Gibt es noch Handlungsbedarf in den Schulen, stärker auf die Leseinteressen von Jungen einzugehen?

Ja. Wir wissen aus der Wissenschaft: „Jungen lesen anders, sie lesen anderes und ihnen bedeutet das Lesen auch nicht so viel wie Mädchen.“ Diesen „systematischen Leseunterschied“ gilt es in der Schule wie zu Hause zu berücksichtigen.

Die erste Auflage Ihres Buches „Warum Jungen nicht mehr lesen und wie wir das ändern“ erschien 2005. Wie hat sich nach Ihrer Meinung die Einstellung der Schulen, Kindergärten und Eltern zum Thema Jungenleseförderung verändert?

Es wird inzwischen schon viel auf unterschiedlichen Ebenen getan. Das muss man anerkennen, vor allem auch im Bereich frühkindliche Erziehung. Das Lesen wird auch bundesweit propagiert. Bund, Länder und Gemeinden bemühen sich nach Kräften.  Mitunter geht Leseförderung jedoch in Aktionismus unter. Lesen ist etwas sehr intimes. Fröhliche Lesenächste oder Aktionen wie „Promis lesen vor“ haben sicher einen hohen  medialen Unterhaltungswert – vor allem für die Promis. Sie wirken aber nicht nachhaltig für die Kinder. Bildung braucht verlässliche Bindung. Lesen lieben lernen, gewissermaßen Leselust entwickeln, geht einher mit guten, belastbaren emotionalen Beziehungen zu festen Bezugspersonen. Das können Eltern, große Geschwister, Trainer oder Mentoren sein. Jungen brauchen dafür vor allem Männer – positive männliche Rollenvorbilder.

Sie waren einige Jahre in den USA. Ist dort der Stellenwert von Jungenleseförderung höher als hier in Deutschland?

Dort ist  die Bedeutung des Themas viel früher erkannt worden. Das liegt natürlich auch daran, dass die gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenleben von Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern  dort eine andere Dimension haben als bei uns. In Deutschland ist das Thema inzwischen angekommen.

PISA-I(2000) hat Jungenleseförderung als wichtiges bildungspolitisches Ziel formuliert. PISA-III (2009) hat jedoch gezeigt, dass die geschlechtsspezifischen Lesekompetenzunterschiede in Deutschland nach neun Jahren gleich geblieben sind und dass der Anteil der Jungen mit hoher Lesemotivation sogar gesunken ist. Woran liegt es, dass sich noch so wenig bewegt?

Mein Eindruck ist, wir verzetteln uns in Deutschland in föderalem Kompetenzgerangel und Einzelprojekten. Elternhaus und Schule arbeiten auch zu wenig miteinander. Solange sich beide Seiten gegenseitig die Schuld für die Misere zuschieben, bleiben potentielle Leser auf der Strecke.

Sie sind Vorsitzende der Initiative Mentor – Die Leselernhelfer Bundesverband e.V. Was sind die Ziele dieses Vereins und wie will er diese verwirklichen?

Die Initiative bietet vor Ort Hilfe zur Selbsthilfe. An uns wenden sich Schulen und Eltern. Gleichzeitig melden sich Mentorinnen und Mentoren aus den Regionen, die ehrenamtlich tätig sein wollen, selbst sehr gern. Das sind z.B. ältere Schülern, Studenten, Berufstätige, Hausfrauen und Rentner. Wir vermitteln Mentoren und Mentees. An 53 Orten der Bundesrepublik sind wir bereits aktiv, mit über 8000 aktiven Mentoren und knapp 10.000 Mentees, die alle im 1:1-Verfahren, also individuell betreut werden. Wir begleiten Mädchen und Jungen zwischen 6 und 16, unabhängig von ihrer Herkunft, über mindestens sechs Monate lang, häufig deutlich länger. Es bildet sich zwischen Mentor und Mentee in der Regel eine freundschaftliche Beziehung. Das hilft. Die Schulnoten der Kinder werden meist zunächst in Deutsch besser, dann auch in anderen Fächern. Mehr Infos finden Sie unter www.mentor-bundesverband.de

Was raten Sie Eltern und Lehrkräften, außer dem Lesen Ihres Buches natürlich, wenn sie die Lesekompetenz von Jungen verbessern wollen?

Versuchen Sie zu verstehen, was Jungen heute bewegt. Knüpfen Sie an die ganz konkrete Lebenswelt der Jungen an. Lassen Sie sie den Lesestoff selbst wählen. Eine falsche Empfehlung ist drei Mal negativer für die Lesemotivation eines Kindes als ein passender Buchtipp ihre Leselust verstärken kann.

Jungen sollten auch unkommentiert Texte lesen dürfen, die Mütter „unmöglich“ finden. Wir Erwachsenen dürfen gern aufhören, immer alles gleich zu bewerten. Ein Comic ist nicht per se schlecht. Hier müssen Eltern und Lehrer umzudenken. Ein Comic ist Teil einer sehr langen Lesetrainingsstrecke, an deren Ende das sogenannte gute Buch steht.

Gibt es schon neue Vortragstermine von Ihnen zum Thema Jungenleseförderung.

Am 13. November 2012 werde ich in Bremen sein, im Sommer mehrfach in Berlin, ansonsten dort, wohin Sie mich einladen. info@warumjungennichtmehrlesen.de

Auf die obligatorische Frage dieser Interviewreihe, welche Bücher Sie für Jungen vorschlagen, können wir diesmal verzichten, denn in Ihrem Buch sind ja sehr viele Vorschläge enthalten, die übrigens von Jungen selbst ausgewählt wurden. Ich danke Ihnen für das Interview und für Ihr Engagement in der Jungenleseförderung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und hoffen, dass Ihr Einsatz weiterhin wichtige Impulse zur Verbesserung der Lesemotivation von Jungen geben wird.

Der von Frau Müller-Walde erwähnte Vortrag in Bremen:

Warum Jungen nicht mehr lesen – und wie wir das ändern können

Veranstaltungsleiterin: Katrin Müller-Walde
Termin:13.11.2012
Uhrzeit:16:00 – 18:00 Uhr
Veranstaltungsort: Wallsaal der Stadtbibliothek
Zielgruppe: Sek. I Oberschule, Sek. I Gymnasium

Nähere Informationen zum Vortrag von Frau Müller-Walde in Bremen finden Sie hier.