Jungenbenachteiligung als solches ist inzwischen unbestritten

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Markus Meier studierte Deutsch, Geschichte, Philosophie und Musik und promovierte 2008 an der Universität in Frankfurt am Main zum Thema „Musikunterricht als Koedukation?“ Er ist heute Professor für Ciencias de Educación (Erziehungswissenschaften) an der Universidad Externado in Bogotá in Kolumbien. Er befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema der „gleichen Behandlung von (biologisch) Ungleichen“ im Bildungswesen. Das Ergebnis seiner Studien hat er nun in einem Buch „Lernen und Geschlecht heute“ veröffentlicht. Prof. Markus Meier gab Dr. Bruno Köhler von www.jungenleseliste.de ein Interview.

Jungenbenachteiligung als solches ist inzwischen unbestritten
Dr. Köhler: Sehr geehrter Herr Prof. Meier, Sie sind Autor des Buches „Lernen und Geschlecht heute“ vom Verlag Königshausen & Neumann. Das Buch haben wir auf unserer Homepage rezensiert. Was war Ihre Motivation, über geschlechterspezifische Pädagogik zu schreiben?

Prof. Markus Meier: Das kam eigentlich eher zufällig, ich wollte erst über AG-Arbeit an der Schule schreiben, da ich das für eine ganz hervorragende Form von Lernen halte. Dann schlug mir mein Doktorvater das Thema „Die starke Überlegenheit des schwachen Geschlechts“ vor, mit einem Augenzwinkern. Das Thema Jungenbenachteiligung als solches ist inzwischen unbestritten, wir haben aber einen – wie die Politik sagen würde – Reformstau, den anzusprechen oder gar aufzulösen sich kein Wissenschaftler oder Bildungspolitiker so richtig traut.

Das Bundesjugendministerium behauptete 2013 auf unsere Anfrage zur Jungenleseförderung, es gäbe keine geschlechterspezifischen Lesekompetenzunterschiede. Wie sieht die Bildungssituation von Jungen wirklich aus? Haben sich Jungen vom PISA-Abseits erholt?

Nein, das hat auch PISA 2012 wieder deutlich gemacht. Aber es interessiert irgendwie auch niemanden, es geht nur um das „Aufholen“ der Mädchen. Das Thema will niemand wahrhaben. PISA 2012 bekennt erstaunlich freimütig, „since low-performing students are less likely to engage politically later on, the government has fewer incentives to unearth and examine the roots of their underperformance at school.“ (Genderreport, S. 20) In dieser neuesten PISA-Studie zum Thema „Ursachen von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Bildungsbereich“ etwa wird der literacy-Nachteil der Jungen (der ja in Deutschland 4-fach höher ist als der Mathenachteil der Mädchen) kaum thematisiert und stattdessen über Mädchen und Mathe „herum philosophiert“. Man verrechnet intern die jeweiligen Benachteiligungen und rundet die beiden ungleichen Leistungsunterschiede (Mädchen in Mathe, Jungen in Sprachen) dann auf Null. Dabei ist dieser Nachteil viel geringer und lebenstechnisch viel unbedeutender. Oder man verrechnet extern die Jungenbenachteiligung. „Das mit den Jungen ist zwar bedauerlich, …“, heißt es dann als Subtext, „aber dafür werden ja auch mehr Männer Professoren und Millionäre etc.“. Als Vater von drei wunderbaren Töchtern sage ich trotzdem: Das ist unseriös.

Die CDU-Bundeskanzlerin meinte, Jungen seien weniger fleißig als Mädchen, der grüne Jürgen Trittin sieht Jungen pauschal weniger begabt als Mädchen und die ehemalige Jugendministerin Bergmann von der SPD war nach dem PISA-Schock der Auffassung, wegen des Hirnbalkens der Jungen könnten diese nicht so gut lesen wie Mädchen. Was halten Sie als Erziehungswissenschaftler von solchen erziehungswissenschaftlichen „Erklärungen“?

Jungen sind einfach anstrengender – aber gerade deshalb muss die Argumentation anders herum gehen. Wir Pädagogen können nicht immer nur jammern, sondern müssen uns fragen: Wie können wir eine jungengerechtere Schule schaffen; eine Schule etwa, die weniger reproduktiv ist, sondern viel explorativer und erfahrungsgesättigter; eine Schule, die weniger auf abwartende Anpassung fokussiert, sondern Raum für Bewährungssituationen bietet; eine Schule, in der Stillsitzen nicht die höchste aller Tugenden ist (dafür gibt es in vielen Fällen schon eine Zwei minus, ich war lange selbst Lehrer und weiß, wovon ich rede), sondern überbordende männliche Motorik konstruktiv berücksichtigt wird. Das ist anstrengend, sehr anstrengend sogar, ja – aber das ist eben auch die Aufgabe von Schule, diese Generationenkonflikte auszutragen, auszuhalten und positiv zu lenken – Pädagogik heißt ja ursprünglich „Jungenlenkung“.

Wenn Trittin unter „Begabung“ die General Intelligence g versteht, so streut dieser Wert bei Männern tatsächlich stärker als bei Mädchen. Es gibt mehr sehr dumme, aber auch mehr sehr intelligente Jungen (Männer) als Mädchen (Frauen). Jürgen Trittin wollte sich mit dem coolen Spruch aber vermutlich eher bei den Parteifreundinnen als Zuverlässiger zurückmelden und weiß ansonsten offensichtlich nicht, wovon er spricht. Diese Herrschaften ignorieren in der Regel konsequent insbesondere biologische Erklärungen des Geschlechterunterschieds, aber wenn sie dann irgendwo irgendwas aufgeschnappt haben, was ihnen in den politischen Kram passt, dann soll‘s auch recht sein. Heraus kommt dann so etwas.

Was ist aber konkret zu tun?

Dazu muss in der Erziehungswissenschaft eine Geschlechterforschung etabliert werden, die diesen Namen auch verdient, die theoriegeleitet und empiriegesättigt konkret Best Practice-Ansätze für Jungenpädagogik entwickelt und erprobt, die selbstbewusst und selbstverständlich dieses Thema aufnimmt und diese Probleme erforscht und löst. Hierzu bräuchten wir allerdings auch eine akademische und politische Klimaerwärmung für Jungenthemen, die spüre ich im Moment leider noch nicht, aber diese Dinge verändern sich eben auch sehr langsam und sind komplex.

Brauchen Lehrkräfte bessere Sanktionsmöglichkeiten?

Ja. Und es ist wichtig, das anzusprechen. (ernst) Jungen sind anstrengend und einige verhalten sich insbesondere gegenüber Lehrerinnen respektlos, manchmal beleidigend. Wir brauchen eine Schulgesetzreform, die Lehrerinnen und Lehrern echte Sanktionsmittel an die Hand gibt, und Direktoren und Schulämter, die das dann auch anwenden – Schule ist keine Quasselbude und kein Kinderparkplatz, sondern eine staatliche Institution, die über Lebenschancen leistungsbezogen und personenindifferent entscheiden muss, dazu hat sie klare Regeln aufgestellt. Wer ihre Regeln missachtet, der missachtet Regeln des Staates und wird entsprechend dafür zur Rechenschaft gezogen. Unsere Kolleginnen und Kollegen zu schützen ist hier noch zu lösende Aufgabe.

Jugendstudien zeigen, dass Jungen seltener positiv in die Zukunft sehen als Mädchen. Worin sehen Sie die Gründe?

An Jungen und Männer werden heute sehr paradoxe Ansprüche herangetragen: Sie sollen einerseits sich zurücknehmen, in immer größere und anonymere Organisationen sich einfügen, funktionieren, leisten, aufsteigen, gut verdienen etc. – gleichzeitig wird dieser Imperativ, nicht zu viel von sich selbst zu zeigen, dann gegen sie gewendet. Kucklick hat das in einer interessanten Studie vor kurzem die „Negative Andrologie“ der Moderne genannt. Je mehr Männer real in Fabriken, AGs, Verwaltungen etc. quasi anonym und austauschbar verschwinden (müssen), um beruflich halbwegs klarzukommen, desto mehr wird ihnen genau das als charakterliches oder biologisches Defizit angekreidet. Jungen lernen: Männer schuften brav, um Familien und den Staat zu ernähren, dafür müssen sie sich dann beschimpfen lassen. Sehr motivierend ist das nicht.

Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Punkte für eine Jungenbildungsförderung?

Ich denke, es wäre zuerst einmal an der Zeit, das Problem „Jungen und Bildung“ überhaupt als Problem zu benennen und im akademischen, (bildungs-)politischen und medial-gesamtgesellschaftlichen Rahmen auf die Agenda zu setzen.

Ich sehe in der Grundschule weniger Probleme für Jungen als auf den weiterführenden Schulen (von Extremfällen mal abgesehen). Während der Pubertät klaffen die Geschlechter entwicklungspsychologisch zwei Jahre auseinander, Mädchen schminken sich und haben einen Freund (oder träumen zumindest davon), Jungen spielen noch mit Fischertechnik. In dieser Zeit spielt das Ziehen von Grenzen für Eltern und Pädagogen eine Riesenrolle. Meiner Erfahrung nach verstehen Jungen und Mädchen diese Grenzziehungen aber ganz anders: Mädchen lieben Grenzen, weil sie ihnen Sicherheit zum Lernen geben, die sie dann genau ausfüllen wollen, von innen heraus. Jungen lieben ebenfalls Grenzen, sind vielleicht noch stärker auf sie angewiesen für ihren Bildungserfolg, weil man sie übertreten und damit überwinden kann, sie suchen außerhalb dieser Grenzen grandiose Erfahrungen von Heldenmut und Großwerden, und sie müssen sich darauf verlassen können, dass jemand sie auffängt, wenn diese Grenzüberschreitungen viel ambivalentere Erfahrungen (und Enttäuschungen) bringen.

Ein Beispiel: In einer Unterrichtseinheit „Musik und Bewegung“ sollte eine Jungen-, eine Mädchen- und eine Gemischtklasse, die ich aus drei 8. Realschulklassen so zusammengestellt hatte, für Forschungszwecke, jeweils einen Tanz zu selbstgewählter Musik einstudieren. Die Mädchenklasse wählte eine sanfte Musik, zu der sie eine Formation entwarf, die alle Mädchen einschloss und die sich synchron-kollektiv im Raum bewegte, das sah toll harmonisch aus. Die Jungenklasse stellte sich im Kreis auf und machte rappigen Breakdance, im Rund der Schulkameraden tanzte jeweils ein Schüler allein unter den kritischen Augen der Mitschüler, hinterher wurde gepufft, gefeixt und gelacht, auf den Zuschauer wirkte es wie eine gebändigte Aggression. Die Gemischtklasse brachte keine gemeinsame Produktion zustande, Mädchen und Jungen segregierten sich spontan, fühlten sich unwohl, konnten sich auf keine Musik einigen, die blockierten sich gegenseitig.

In der Oberstufe und der Universität sehe ich die Situation spielen entwicklungspsychologische Ungleichzeitigkeiten keine so große Rolle mehr, eher evtl. institutionelle Ungerechtigkeiten durch Frauenquoten.

Die Gretchenfrage: Koedukation oder Segregation – was ist besser für Jungs?

Um das zu beantworten, brauchen wir viel seriöse, methodisch saubere erziehungswissenschaftliche Forschung zu dem Thema, aber evtl. gehört die Koedukation auf den Prüfstand. Es gibt in der evolutionären Psychologie ein Prinzip, das „male competition versus female choice“. Männer kämpfen miteinander und Frauen wählen sich dann den besten aus. Männer suchen Frauen v.a. zu imponieren durch den Sozialrang, den sie erreicht haben – da wird gern auch mal etwas dick aufgetragen. Frauen hingegen versuchen Männer zu verführen – die Attraktivitätsattribute werden dabei durchaus gern auch etwas aufgemotzt mit „Make-up“. Dieses Verhaltensprinzip ist in der Evolution entstanden und es spricht einiges dafür, dass es auch das Verhalten von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen zumindest mitbestimmt.

Männer stellen unter sich meist recht schnell eine Hierarchie her, die sie dauerhaft verbindet (oder eben trennt …), und die das Herstellen großer sozialer Strukturen ermöglicht. Aggressionen direkt „territorial-direkt“ auszutragen ist Teil dieses Verhaltens. Frauen suchen untereinander v.a. Intimität, die sie dauerhaft verbindet. Aggressionen werden „indirekt-beziehungsmäßig“ ausgetragen, durch ausplaudern, lästern, schneiden, Gerüchte streuen etc. wird der Gegner oder die Gegnerin in seinem sozialen Umfeld getroffen und isoliert. Hierarchien sind diffuser, veränderlicher und schwerer zu durchschauen, und der eigene soziale Status gehört weniger zum Selbstbild.

Man wird jetzt einwenden, das seien doch Stereotype, darüber seien wir als moderne Menschen doch längst hinweg. Vielfältige Forschungen zeigen jedoch: Diese im Laufe einer 300 Millionen Jahre währenden Evolution der bimorphen Lebewesen erworbenen Strategien lassen sich weder durch eine konservativ-klösterliche noch eine progressiv-feministische Erziehung einfach „abschalten“; wir haben Geschlecht erlernt, aber eben nicht im Laufe unserer Biographie, schon gar nicht im gender-awareness-Seminar, sondern im Laufe der Evolution der höheren Organismen (siehe auch meinen Beitrag auf www.ide-journal.org).

Und was bedeutet das jetzt konkret für die Frage Koedukation oder Segregation?

Koedukation bereitet evtl. auf ein gemischtes Miteinander leben von Männern und Frauen in Arbeits- und Familienwelten besser vor. Dem stehen Nachteile gegenüber, v.a. in der Pubertät. Jungen versuchen Mädchen zu imponieren, rivalisieren dabei schnell mit dem Lehrer, allerdings wenig aussichtsreich, spätestens auf Zeugniskonferenzen oder bei Bewerbungsgesprächen erhalten sie die Quittung. Mädchen schauen sich das Ganze an und wirken gegenüber dem Lehrer (durchaus auch selbstironisch) als ruhend-verständiger Pol, das honoriert die Institution. Trennt man die beiden, so erhält man in Mädchenklassen schnell eine etwas leistungsfern-gemütliche Lerneinstellung, verbunden mit einem für Lehrer schwer zu durchschauenden Intrigengeflecht. Jungenklassen hingegen werden sich stärker hierarchisieren, das wirkt stabilisierend und evtl. motivierend, die Abwesenheit von Mädchen verhindert den „männlichen Präsentationsimperativ“, der sonst zu so vielen Störungen in Gemischtklassen führt.

Generell gilt: Es gibt nicht das geschlechtstypische Verhalten (freche Jungens, soziale Mädchen etwa), sondern Verhalten ist immer Verhalten zu jemandem in einem bestimmten Kontext. Nach meinen Forschungen profitieren sowohl v.a. Jungen als auch Mädchen von einer Trennung der Klassen in der Pubertät.

Ich forsche gerade hier an einer Schule, die zwar räumlich koedukativ, klassenmäßig aber getrennt ist: Jungens und Mädchen fahren also morgens in die gleiche Schule, treffen sich in der Pause, es soll auch schon zu Verabredungen zwischen beiden Geschlechtern gekommen sein – der Unterricht aber ist nach Geschlechtern getrennt. Die Schule ist erstaunlich erfolgreich damit.

Welche Ansätze sehen Sie speziell im Bereich der Jungenleseförderung für vielversprechend?

Für einen Großteil der Jungen ist es wichtig, erst einmal eine ausreichende Lesegeschwindigkeit zu erreichen, um funktionell im öffentlichen Leben und in der Arbeitswelt zu bestehen. Diese Alphabetisierung sollte über Texte erfolgen, die viele Jungens ansprechen: Warum eigentlich nicht mal den Testbericht eines neuen Autos aus Automotorsport kopieren und lesen? Ein Interview mit Franz Beckenbauer aus der Zeitschrift ? (Ich weiß, da freuen sich die Kollegen …) Wettbewerbssituationen spornen Jungen an: Welche Klassenseite liest/schreibt/versteht am schnellsten, Fenster oder Tür? Lesen muss hier trainiert werden, wie eine Sportart.

In der sekundären Bildung muss dann das Textverstehen im Vordergrund stehen. Hier wird Sprache m.E. zu sehr aus empathischer Sicht behandelt. Eine Anekdote: In meinem Deutschkurs in der 12 habe ich seinerzeit – natürlich – Effi Briest lesen müssen. Ich habe da dann ordentlich mitgequatscht über die bürgerliche Gesellschaft, das arme Mädchen, die bösen Männer etc. (das ging ja in den 80ern los). Was mir überhaupt nicht klar war: Effi war fremdgegangen! Unsere Lehrerin hatte das einfach als selbstverständlich vorausgesetzt, dass wir alle das kapiert hatten; hatte ich aber nicht. Der weibliche Seitensprung lag einfach jenseits meiner evangelisch-kleinstädtischen, jünglinghaften Empathiefähigkeit … (lacht) Ich schlage vor, auch systematische Elemente im Literaturunterricht zu berücksichtigen, formale, epochenspezifische, gattungsspezifische, auch linguistische – wie hat Fontane das gemacht, wie funktioniert dieses seltsame Phänomen Sprache, warum weinen wir über raschelndes Herbstlaub im Hof von Hohen-Cremmen? Auch Rhetorik und logisches Argumentieren sollten gelehrt werden.

Es bleibt aber auch hier eine biologische Komponente zu berücksichtigen. Ein jungengerechter Ansatz muss sich immer auch bewusst sein, dass er kompensatorisch gegenüber den sprachbegabteren Mädchen arbeiten muss. Mädchen reden früher, schneller und mehr als Jungen, schon als kleine Kinder. – die Mathedidaktik macht es umgekehrt ja vor. Auch hier darf Segregation kein Tabu sein. Und: Es gab mit Shakespeare und Goethe durchaus auch Männer, die Sprache meisterlich beherrschten…

Sie haben in Musikpädagogik promoviert. Wie wichtig ist musikalische Früherziehung für die Entwicklung, insbesondere bei den schulischen Kompetenzen, für Kinder?

Musik macht nicht klug, aber sie hat sehr positive Wirkungen im Bereich von Emotionen, sozialem Selbstsicherheitsgefühl und Motorik. Musizierende Kinder (gerade auch in Brennpunktschulen) sind emotional stabiler, ausgeglichener, prügeln sich weniger und grenzen sich seltener aus und haben eine feinere Motorik. Musik verringert Schulangst und integriert Kinder sehr gut. Singen Sie mit einer (Grundschul-)Klasse ein Liedchen vor der Mathearbeit, werden die Ergebnisse besser, obwohl das Liedsingen von der reinen Arbeitszeit abgeht! Der Hirnforscher Manfred Spitzer sagte, wissenschaftlich gesehen seien Musik, Tanz, Sport und Kunst die wichtigsten Schulfächer bei den Kleinen.

In Musikschulen sehe ich nur sehr wenige Jungen. Was können Musikschulen tun, um mehr Jungs für musikalische Früherziehung zu gewinnen?

Es ist wohl auch deshalb, dass Jungen nicht in den Künsten erzogen werden (sollen), in der Ballettklasse meiner Tochter im Kindergarten (wo die letztlich ein bisschen Bewegungstraining und Gymnastik machen) sind 20 Mädchen und kein Junge! Singen, musizieren, malen, tanzen, Theaterspielen. Alles das waren früher völlig normale Bildungsziele für Jungen und Mädchen gleichermaßen, heute gelten sie im Jungenfall als Luxus. Da müssten Musikschulen und Politik gegensteuern und neue Leitbilder verkaufen.

Unsere letzte Umfrage bei 41 Bildungspolitikern in Deutschland ergab ein kollektives Desinteresse der politisch Verantwortlichen an der Bildungssituation von Jungen. Welche Konsequenzen hat diese Vernachlässigung des Bildungspotentials und damit des Fachkräftepotentials von Jungen mittel- und langfristig für ein Land wie Deutschland?

Ja, diese Frage müsste sich Politik mal stellen! Die fragt sich aber: „Wie kann ich Mehrheiten für die nächste Wahl gewinnen“ – was danach kommt, sehen wir dann. Und so wird ja auch (nicht nur Bildungs-)Politik gemacht, an langfristigen Strategien fehlt es völlig. Jeder weiß: Ein hoch technologisiertes, lohnintensives Land wie Deutschland braucht, u.a. um sich seinen sozialen Apparat leisten zu können, eine innovative Industrie. Jungen interessieren sich mehr für technische Berufe? Da würde doch jeder normale Mensch sagen: „Ja, Mensch, dann lasst uns diese Jungen suchen und aufbauen, die brauchen wir …“ Was macht die Politik? Sie sagt: „Das ist skandalös, wir brauchen mehr Frauen in diesen Berufen!“

Wo sehen Sie konkrete positive Ansätze einer Jungenbildungsförderung aus Ihrer Praxis?

Erziehung wird dann ganz schwierig, wenn die Jungens aggressiv werden, weil die Familien dysfunktional geworden sind. Die Mädchen reagieren eher autoaggressiv, aber nicht weniger schlimm auf diese Erfahrungen. Die Scheidungsfreudigkeit der Gesellschaft ist für die Schulen ein Problem, wo hingegen Vater und Mutter an einem Strang ziehen, da gelingt in den Familien die Erziehung und in den Schulen die Wissensvermittlung.

Schwierig ist es, im Kollegium Jungenfreundliches anzubringen, da ist man schnell der „lächerliche Dämon“. Da habe ich kein Rezept dagegen außer „Verbündete suchen“. An der Universität ist es noch schlimmer in den Erziehungswissenschaften, da das Thema „Jungen“ so stark verquast zwischen Wissenschaft und Moral durchhängt, da muss man in Deutschland sehr sehr vorsichtig sein, sonst ist die Karriere vorüber, bevor sie begonnen hat.

Ich habe mit meiner eigenen Forschung gute Erfahrungen mit der Trennung der Geschlechter gemacht, das bezog sich auf eine 8.-10. Realschulklasse auf dem Lande, ob das übertragbar ist, müsste ein Flächenversuch zeigen, von der getrennt-koedukativen „Vermont“-Schule hier habe ich weiter oben berichtet.

Vielen Dank für das Interview.