Interview mit Alexander Ulfig

Jungen Jungen brauchen Vorbilder

MANNdat im Interview mit Dr. Alexander Ulfig

1962 in Kattowitz geboren, interessierte sich Dr. Alexander Ulfig schon als Junge sehr für Geschichte und Filme. Später entdeckte er seine Liebe zur Philosophie, die er dann auch zusammen mit Soziologie und Sprachwissenschaften in Hamburg und in Frankfurt am Main studierte. Heute ist Dr. Ulfig Autor und Publizist, u.a. im Blog der Internet- und Blogzeitung „Freie Welt“, und beschäftigt sich dabei mit den Fragen, was ein glückliches Leben ist, wie Menschen miteinander friedlich und respektvoll umgehen können und wie eine gerechte Welt aussehen könnte. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören „Lexikon der philosophischen Begriffe“ (1993), „Lebenswelt, Reflexion, Sprache“ (1997), „Die Überwindung des Individualismus“ (2003) und „Große Denker“ (2006). Er ist mitverantwortlich für die Internetseite „Qualifikation statt Quote“ unter www.streitbar.eu/qsq.htm

Dr. Bruno Köhler (MANNdat): Sehr geehrter Herr Dr. Ulfig, Sie publizieren auf www.webjungs.de eine Artikelreihe „Vorbilder für Jungen“. Dazu gehört auch noch Ihre „Filmliste für Jungen“. Was ist das für ein Projekt und was wollen Sie damit erreichen?

Dr. Alexander Ulfig: Ich stelle monatlich 1-2 Persönlichkeiten mit Vorbildfunktion vor. Diese Persönlichkeiten vermitteln Werte und Fähigkeiten, die für Jungen besonders wichtig sind, wie zum Beispiel Mut, Freiheit, Gerechtigkeit, Selbständigkeit, Offenheit, Toleranz, Aufgehen in einer Tätigkeit und Engagement. Dabei möchte ich Vorbilder aus dem Bereich „Kultur“ vorstellen, also Philosophen, Wissenschaftler, Künstler und Politiker, und das aus zwei Gründen: Erstens ist es mir aufgefallen, dass in den bestehenden Jungen-Projekten das Thema „Kultur“ keine wesentliche Rolle spielt; sie konzentrieren sich auf sportliche Aktivitäten. Zweitens möchte ich der heute weit verbreiteten Vorstellung entgegenwirken, wonach „Männlichkeit“ – wenn sie überhaupt positiv dargestellt wird – in körperlicher Kraft, Ausdauer, Durchsetzungsvermögen, Machtstreben usw. bestünde. Wenn es so etwas wie „Männlichkeit“ gibt, dann bedeutet sie für mich Vergeistigung. Unter „Mannsbildern“ stelle ich mir deshalb nicht Arnold Schwarzenegger, Brett Pitt oder Michael Ballack, sondern Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Hölderlin vor.

Brauchen Jungen heute besonders Vorbilder und wenn ja, warum?

Ja, sie brauchen besonders heute Vorbilder. Viele Jungen wachsen ohne einen Elternteil, meistens ohne einen Vater, auf. Damit fehlt schon ein wichtiges Vorbild. In der Schule werden ihnen keine Vorbilder nahe gebracht. Ähnliches gilt für die Medien, wo oft nur negative Vorbilder, also Menschen, die sich dazu gar nicht eignen, als Vorbilder aufzutreten, gezeigt werden. Nicht wenige Jungen haben mangels positiver Vorbilder psychische Probleme oder geraten auf die schiefe Bahn. Sie bleiben orientierungslos. In einer Zeit, in der Jungen in einer Identitätskrise stecken, sind Vorbilder von besonderer Wichtigkeit. Sie vermitteln positive Werte, zeigen, wie Menschen bestimmte Situationen oder ihr ganzes Leben – oft unter sehr schweren Bedingungen – gemeistert haben, kurz: Sie geben Orientierung.

Ist das Leben für Jungen heute schwerer als früher und wenn ja, warum?

Früher wurde Jungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Auch medial standen sie mehr im Fokus der Aufmerksamkeit. Schauen Sie sich zum Beispiel alte Filme an. Dort sehen sie in den Haupt- und Nebenrollen meistens Jungen. Heute sind es vorwiegend Mädchen. In den westlichen Ländern wünschen sich die meisten Paare Mädchen als Nachwuchs. Alles, was Mädchen und Frauen betrifft, steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Probleme von Jungen und Männern werden hingegen nicht thematisiert. Darüber hinaus wurden früher Jungen in ihrer Eigenart mehr akzeptiert. Heute würden viele Pädagogen und Pädagoginnen die Jungen am liebsten umerziehen. Und nicht zuletzt kommen noch die Benachteiligungen von Jungen im Bildungssystem: Sie brechen häufiger als Mädchen die Schule ab, werden öfter auf die Haupt- oder Sonderschule geschickt, bleiben öfter sitzen und erhalten bei gleicher Leistung schlechtere Noten. Nur 43 Prozent der Abiturienten sind Jungen. Junge Männer besuchen seltener die Universität und werden häufiger arbeitslos. Das war früher anders. Während es aber für Mädchen eine flächendeckende, staatlich finanzierte Förderung mit Tausenden von Initiativen, Projekten und Organisationen gibt, werden Jungen von der Politik vernachlässigt. Es gibt zum Beispiel einen „Girls Day“, an dem Mädchen unterschiedliche, meist technische Berufe kennenlernen können, aber keinen „Boys Day“, Notrufe für Mädchen, aber keine Notrufe für Jungen, obwohl sich Jungen in der Pubertät zwölfmal häufiger umbringen als Mädchen, Mädchenhäuser, aber keine Jungenhäuser, obwohl auch viele Jungen es zuhause nicht aushalten können, Mädchenkulturzentren, aber keine Jungenkulturzentren usw.

Das ausgeprägte Missverhältnis von Mädchenförderung zu Jungenförderung ist ohne Frage nicht gerechtfertigt und Jungen benachteiligend. Immerhin, den Boys-Day soll es jetzt nach 10 Jahren endlich bundesweit geben. Was machen Ihrer Meinung nach speziell Gandhi, Einstein, Goethe und Sokrates zu Vorbildern für Jungen?

Gandhi ist ein Symbol für gewaltlosen Widerstand und Gerechtigkeit. Man sollte für seine Rechte gewaltlos kämpfen und sich von niemandem einschüchtern lassen. Außerdem machte er sich viele Gedanken über seelische und körperliche Gesundheit. Er lehnte den Konsum von Alkohol und anderen Drogen ab. Einstein ist ein Vorbild für alle Jungen, die Wissenschaftler werden möchten. Er ließ sich von nichts ablenken, konnte sich also auf seine Arbeit voll konzentrieren. Er stellte bestehende Meinungen und Autoritäten in Frage und sprach sich konsequent für Selbständigkeit im Denken aus. Darüber hinaus war er ein entschiedener Gegner des Militärdienstes und setzte sich weltweit für Kriegsdienstverweigerer ein. Einstein und Goethe lernten als Jungen in erster Linie für sich selbst und nicht für andere. Das ist wichtig, um echte Leidenschaft für eine Sache zu gewinnen. Goethes dichterisches Talent war nicht angeboren, sondern das Ergebnis einer intensiven Förderung. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass kein Junge ohne Förderung vorankommen kann. Vorbildhaft ist Goethes Lebenshaltung, zu der Bildung, Offenheit, Streben nach Vervollkommnung und das Bemühen um geistige und körperliche Gesundheit gehören. Besonders wichtig ist für Goethe die Bildung im Sinne der Entfaltung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten und eines lebenslangen Lernens. Und schließlich Sokrates. Vorbildhaft sind seine kompromisslose Suche nach Wahrheit und nach gutem Leben, aber auch seine Bescheidenheit und sein Umgang mit schwierigen Lebenssituationen, zum Beispiel mit dem Tod.  Er hatte Mut zum eigenen Urteil, vertrat Überzeugungen und Werte ohne Rücksicht auf eigene Nachteile. Das nennt man heute Zivilcourage.

Gandhi, Einstein usw. waren ohne Frage große positive Persönlichkeiten. Aber wie alle Menschen hatten auch diese ihre Schwächen und Fehler. Diese kommen in Ihren Kurzbeschreibungen etwas zu kurz. Wäre der Zugang zu diesen Persönlichkeiten für Jungen nicht einfacher, wenn auch diese Schwächen thematisiert würden?

Sie haben recht, man kann den Zugang zu einer Person über ihre Schwächen gewinnen. Ich habe einige Schwächen thematisiert und werde es auch in den folgenden Darstellungen tun. Einstein zum Beispiel begann sehr spät zu sprechen. In der Schule war er ein Außenseiter und wurde von seinen Mitschülern „Bruder Langweil“ genannt. Jeder Mensch hat Schwächen. Eine große Persönlichkeit konzentriert sich in der Regel auf ein bestimmtes Gebiet und erreicht auf diesem Gebiet große Leistungen beziehungsweise Perfektion. Dadurch vernachlässigt sie andere Gebiete. Ein großer Wissenschaftler vernachlässigt zum Beispiel sein Familienleben oder zeigt sich beziehungsunfähig. Ich setze aber in meinen Darstellungen auf die Thematisierung der positiven Eigenschaften, also der Stärken. Man sollte sich nicht mit Schwächen, sondern mit Stärken identifizieren. Es kommt darauf an, wie man Stärken vermittelt.

Wie wichtig sind Personen im unmittelbaren Umfeld (Bruder, Vater, Freunde usw.) als Vorbilder für Jungen?

Sehr wichtig. Es sind die unmittelbaren Bezugspersonen. Von ihnen lernen Jungen unmittelbar, wie sie denken und handeln sollten. Von ihnen erhalten sie Lebensorientierung. Sie sind in gewissem Sinne unersetzbar. Allerdings möchte ich hier anmerken, dass nicht alle Väter, Brüder und Freunde als Vorbilder taugen. Davon kann ich ein Lied singen. Mein Vater hat mich schlecht behandelt und vermittelte mir kaum positive Werte. Ich musste mir also woanders, in der Geschichte, der Kultur und in der Politik, Vorbilder suchen. Fehlen Vorbilder im unmittelbaren Umfeld, müssen dann „externe“ Vorbilder, also Vorbilder, die außerhalb der Familie und des Freundeskreises liegen, herangezogen werden. Solche Vorbilder möchte ich in meiner Artikel-Reihe vorstellen.

Wer war bzw. ist Ihr größtes Vorbild?

Schwer zu sagen. Es gibt viele. Auch diejenigen, die ich in meiner Artikel-Reihe vorstelle, sind für mich Vorbilder. Es gibt aber zwei weniger bekannte Persönlichkeiten, die für mich heute die größten Vorbilder darstellen. Zunächst der Soziologe Alfred Schütz. Er hat einen Vollzeitjob als Bankangestellter gehabt, seine soziologischen Studien betrieb er abends bis tief in die Nacht. 1939 emigrierte er als Jude in die USA. Dort führte er weiter dieses „Doppelleben“, schrieb seine soziologischen Studien in einer ihm fremden Sprache (englisch) und prägte in dieser Sprache eine eigene soziologische Terminologie. Unglaublich! Und dann noch der Psychologe Viktor Frankl, der mehrere Konzentrationslager, u.a. Auschwitz, überlebte und trotz dieser schrecklichen Erfahrungen „Ja zum Leben“ sagte (der Titel seines bekanntesten Buches lautet „… trotzdem Ja zum Leben sagen“).

Jungen haben heute ein schlechteres Bildungsniveau und eine schlechtere Bildungsbeteiligung als Mädchen. Was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten, um Jungen aus dem Bildungsabseits zu holen?

Eine flächendeckende Jungenförderung. Dazu möchte ich aber zuerst etwas grundsätzlich anmerken: Ich bin dafür, dass Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit, also auch unabhängig von ihrem Geschlecht, gefördert werden. Solange aber Mädchen einseitig gefördert werden, sollte man sich vermehrt den Problemen und Sorgen der Jungen zuwenden. In Analogie zu den unzähligen Initiativen und Projekten für Mädchen sollten Initiativen und Projekte für Jungen entstehen. Zum Beispiel sollte ein „Boys Day“ organisiert werden, an dem Jungen aber nicht wie gefordert „Frauenberufe“, sondern die ganze Palette von Berufen kennenlernen könnten. Wichtig ist es, die Lesekompetenz von Jungen zu fördern, weil sie hier die größten Defizite zeigen. Ich befürworte ferner die Einrichtung von Jungenzentren. Dort könnten jungenspezifische Themen behandelt und jungenspezifische Projekte durchgeführt werden, zum Beispiel Bildungsdefizite von Jungen, Perspektiven für Jungen und junge Männer, Arbeitslosigkeit von jungen Männern, Umgang mit Gewalt, Umgang mit Alkohol und anderen Drogen. Ich spreche mich auch für die Einrichtung von Jungenkulturzentren aus, womit ich wieder beim Thema „Kultur“ angelangt bin. Dort könnten Jungen ihre Kenntnisse über Geschichte, Politik, Kunst, aber auch über naturwissenschaftliche und technische Bereiche erweitern. Ich weiß, dass wir hier vom Staat nicht viel zu erwarten haben. Da wo der Staat versagt, sollten die einzelnen Bürger aktiv werden. Vom Engagement eines jeden Einzelnen hängt es ab, ob die Jungenkrise überwunden wird.

Vielen Dank für das Gespräch.

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