Bildungserfolg

Gastbeitrag von Michael Klonovsky

Michael Klonovsky ist Journalist und Autor. Er erhielt den „Wächterpreis der Tagespresse“ für die „Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen durch die DDR-Justiz und den Staatssicherheitsdienst“. Seit 1992 ist er Redakteur, später als Chef vom Dienst bzw. Textchef, Leiter des Debattenressorts, und inzwischen Autor beim „Focus“. Herr Klonovsky ist verheiratet und hat vier Kinder. In seinem Blog schrieb er einen Beitrag über Jugendbuchliteratur und Bildungserfolg.

Einer der Söhne liest die Schatzinsel. Egon Bahr brachte seinen Spross noch zur Lektüre mit dem Angebot, jedes Buch, welches er lese, dürfe er behalten. Unsereiner muss mit der Offerte daherkommen, wenn das Buch gelesen ist, gibt es das Nintendo zurück. Außerdem kann sich der Bub 1000,- Euro verdienen, wenn er mir einleuchtend begründet, warum ihm Stevensons Meisterwerk nicht gefällt.

Meisterwerk? Aber ja. Ich halte Treasure Island für das beste (mir bekannte) Jugendbuch, noch vor Kiplings Dschungelbuch, das auch ein Solitär und bedeutende Literatur ist. Ein untrügliches Zeichen für große Schriftstellerei liegt ja dann vor, wenn es einem Autor gelingt, Gestalten zu schaffen, die sich wie Archetypen ins kollektive kulturelle Gedächtnis prägen. Das ist, sicherheitshalber sei es angemerkt, keineswegs dasselbe wie der Umstand, dass die halbe Welt eine literarische Figur kennt, speziell heute, wo das Kino und die Massenmedien für die Verbreitung von allem und jedem sorgen. Nichts gegen Harry Potter, Voldemort und Snape, aber neben Jim Hawkins, Israel Hands und vor allem John Silver sind das Pappkameraden, von der literarischen Sprache gar nicht zu reden (wenn ich meinen Jungs zeitgenössische Autoren vorlese, bin ich dauernd am Korrigieren).

Meine Lieblingsstelle der Schatzinsel ist John Silvers Rückkehr zu Kapitän Smollett. Nachdem er die Meuterei organisiert, das Schiff in seinen Besitz gebracht, mehr als ein Dutzend Mannschaftsangehörige auf dem Gewissen und am Ende wieder die Fronten gewechselt hat, tritt der einbeinige Pirat und Schiffskoch vor seinen von den Meuterern verwundeten Dienstherren, der, als er ihn erblickt, verblüfft fragt:

„Is that you, John Silver? What brings you here, man?“

„Come back to my dooty, sir,“ returned Silver.

„Ah!“ said the captain; and that was all he said.

Das „Melde mich wieder zum Dienst zurück“ ist schon komisch genug, aber dieses „Ah!“ führt uns in die Regionen der Hochkomik und des literarischen Genies, wobei sich in diesem Ausruf auch die tiefste Menschenkenntnis offenbart.

Beitrag erschien zuerst auf: michael-klonovsky.de

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Michael Klonovsky