Beim Lesen lernen verlieren wir sehr viel häufiger die Jungen

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau plädiert der Forscher Andreas Gold für mehr Leseförderung und erklärt, warum Jungen häufiger unter Lesestörungen leiden als Mädchen. Das Interview ist in Gänze lesenswert. Hier einige interessante Ausschnitte:

„Bei den 10- bis 15-Jährigen hat rund jeder Fünfte größere Schwierigkeiten mit dem Lesen. Das bedeutet, dass sie langsam, stockend und nicht gern lesen und beim Lesen viele Fehler machen. (…) 

(…) Ursachen dafür (…) sind Defizite bei der Verarbeitung von Sprachlauten, aber auch eine unzureichende sprachliche Kompetenz überhaupt. Es wird leicht vergessen, dass die gesprochene Sprache die Grundlage ist, um die Schriftsprache zu erlernen. Aus den Einschulungsuntersuchungen wissen wir, dass ein beträchtlicher Anteil der Kinder sprachliche Probleme hat. (…) Aus den Bildungsberichten geht hervor, dass fast jedes vierte Kind mit fünf oder sechs Jahren einer Sprachförderung bedarf. (…)

(…) Lesen lernen Kinder nicht zu Hause oder im Kindergarten. Aber die notwendigen Vorläuferfertigkeiten wie sprachliche Kompetenzen oder der Wortschatz werden dort erworben. Kinder lernen, wie Dinge heißen, wie Wörter klingen und wie es sich anhört, wenn Wörter sich reimen. (…) 

Entscheidend ist der Umgang der Eltern mit Sprache und Schrift. Der Sprachstand der Kinder ist abhängig davon, wie viel und wie gut Eltern mit ihnen sprechen. (…)

 (…) Am wirksamsten wäre es, wenn es präventiv eine Sprachförderung für Kinder zwischen fünf und sechs Jahren gäbe. Es lohnt sich, in der Kita noch mehr als bisher zu machen. Ökonomen zufolge hat jeder investierte Euro im vorschulischen Bereich eine besonders hohe Rendite; in Relation zu den Aufwendungen ist der Ertrag der Bildungsausgaben dort am höchsten. 

(…) Im letzten Bildungsbericht wurde deutlich, dass nach dem quantitativen Ausbau der Kitas dringend eine qualitative Aufwertung folgen muss. Es bedarf einer besonderen Diagnostik, welche Kinder neben der alltagsintegrierten Sprachförderung besondere Hilfen brauchen. Die Betroffenen müssen dann in Kleingruppen oder sogar individuell gefördert werden. (…)

Und was muss sich in der Schule verändern?
[In der Schule] muss man bei schwachen Kindern noch mehr Zeit investieren, andernfalls verlieren wir sie schon sehr früh. In den ersten zwei Schuljahren geht es um die Alphabetisierung und den Aufbau eines Sichtwortschatzes, so dass Kinder Wörter bald direkt erkennen und sie nicht mehr mühsam lautierend erlesen müssen. (…) 

Beim Lesen lernen verlieren wir sehr viel häufiger die Jungen, die übrigens auch häufiger unter Lesestörungen leiden. (…) Schon bei der Sprachentwicklung sind Mädchen etwas früher dran und den Jungen um ein paar Monate voraus. (…) Dieser Geschlechterunterschied bleibt bis zum Ende der Grundschulzeit erhalten. 

(…) Das Wissen [über Leseförderung] gelangt erst langsam in die Lehrerausbildung. Zum Beispiel sind Lautleseverfahren sehr effizient. Dabei lesen zwei Kinder in einem Tandem laut einen Text zusammen und das stärkere Kind korrigiert das schwächere. 

(…) Ab der fünften Klasse wird meist vorausgesetzt, dass Schüler lesen können. Ab diesem Zeitpunkt wird dann nur noch gelesen, um zu lernen. Man tut so, als hätten sich die leseschwachen Viertklässler in Luft aufgelöst, aber diese Gruppe hat weiterhin Schwierigkeiten, Texte zu verstehen. Das sind zwar keine Analphabeten, aber sie lesen sehr schlecht und sie lesen auch nicht mehr freiwillig. Diese Risikogruppe wird sich schwer tun, einen mittleren Schulabschluss zu erreichen und beruflich erfolgreich zu sein.“