Prof. Christine Garbe – Jungenleseförderung
Prof. Christine Garbe
Im August 2018 ging mit Frau Prof. Christine Garbe, eine der weltweit führenden Fachleute in Sachen geschlechterspezifischer Lesekompetenz in Ruhestand. Mit ihrem Ausscheiden verliert die Jungenleseförderung einen wichtigen Motor der Jungenleseförderung in Deutschland. Seit dem ersten „PISA-Schock“ 2001, als die OECD Jungenleseförderung als eine wichtig bildungspolitische Herausforderung anmahnte, hat sie sich für Jungenleseförderung stark gemacht. Wir wissen heute, dass sich die Bildungspolitik dieser Herausforderung nie gestellt hat. Das Zurückholen von Jungen aus dem Bildungsabseits war zu keinem Zeitpunkt politisch gewünscht. Der Gender Education Gap zuungunsten von Jungs wird von den politischen Verantwortlichen nicht als Problem gesehen, sondern als positive, ja sogar erfreuliche Rückmeldung der einseitigen Bildungsförderung von Mädchen. Die Geschlechterpolitik hat sich auch trotz Gender Mainstreaming nie über die Frauenfrage hinaus weiterentwickelt. Deshalb hat die Bildungspolitik Jungenleseförderung bis heute vernachlässigt. Das kann man allein daran erkennen, dass eine Fachfrau wie Prof. Garbe niemals in einen bildungspolitischen Arbeitskreis berufen wurde.
Das Resultat ist bekannt. Laut neuester Leo Level-One Studie sind in Deutschland, einem Land, in dem Bildung der wichtigste volkswirtschaftliche Faktor darstellt, 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten unter den Personen im erwerbsfähigen Alter. Männer stellen mit 58,4 Prozent die Mehrheit der gering literalisierten Erwachsenen. Von den gering literalisierten Erwachsenen haben dabei 22,3 Prozent die Schule ohne Abschluss, 40,6 Prozent mit niederem Schulabschluss verlassen. Immerhin 16,9 Prozent der gering literalisierten Erwachsenen haben die Schule mit hohem Abschluss verlassen. Die Zahlen spiegeln also ein mangelhaftes Bildungswesen wider.
Christine Garbe initiierte u.a. das Jungenleseförderprojekt boys & books, über das wir hier schon mehrfach berichtet haben. Mit dem Ausscheiden von Frau Garbe wird dieses Projekt nun von Frau Prof. Ina Brendel-Perpina an der Katholischen Universitär Eichstätt- Ingolstadt weitergeführt.
Das Buch
Im Buch „Attraktive Lesestoffe (nicht nur) für Jungen: Erzählmuster und Beispielanalysen zu populärer Kinder- und Jugendliteratur“ vom Verlag Schneider Hohengehren (ISBN-13: 978-3834018861) hat Christine Garbe gemeinsam mit anderen Autoren nochmals den Stand der Jungenleseförderung zusammengestellt.
Wir haben natürlich auch mehrfach versucht, einmal ein Interview mit Frau Garbe zur Jungenleseförderung zu erhalten. Leider ist uns dies nicht gelungen. Wir verweisen deshalb anstelle eines eigenen Interviews auf ein Interview, das Frau Prof. Garbe dem Borromäusverein e.V. Bonn 2013 gegeben hat. Nachfolgend einige Ausschnitte. Das Interview ist in Gänze lesenswert.
Das Interview
„Im Durchschnitt sind die Jungen in den entwickelten Industrieländern der OECD im Bereich des Lesens ein Schuljahr hinter den gleichaltrigen Mädchen zurück. Auch in Deutschland lesen die Mädchen mit 15 Jahren ein ganzes Schuljahr besser als die Jungen.
Ein zweiter harter Faktor ist, dass in der Gruppe der besonders schwachen Schüler zwei Drittel Jungen und ein Drittel Mädchen sind. Auch der Teil der Jugendlichen, die angeben, dass sie in ihrer Freizeit überhaupt nicht freiwillig lesen, besteht aus zwei Drittel Jungen und einem Drittel Mädchen. In Deutschland sagen über 50 % der 15-jährigen Jungen, dass sie nur lesen, wenn sie dazu gezwungen werden.
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Es gibt in der Entwicklung der Lesekompetenz drei sensible Phasen, die der Borromäusverein mit seinem Projekt „Ich bin ein LeseHeld“ im Grunde auch abdeckt.
Es gibt die Phase der frühkindlichen Entwicklung, in der die Kinder umfangreiche Vorleseerfahrungen haben sollten. Wichtig sind verbal vermittelte Geschichten, bei denen die Kinder Worte hören und dazu Vorstellungen im Kopf entwickeln müssen. Das Stichwort ist die Vorstellungsbildung. Kinder müssen die Erfahrung machen, dass es spannende Geschichten gibt, die man nur hört. Auch das Kennenlernen narrativer Muster ist wichtig.
Die zweite wichtige Etappe ist die harte Schule des Schriftspracherwerbs in den Klassen 1 und 2. Das ist viel Arbeit, und es ist wichtig, dass die Kinder in dieser Phase motiviert bleiben. Auch in dieser Phase ist es wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer vorlesen, damit die Kinder wissen, dass sich die harte Arbeit lohnt.
Die dritte wichtige Phase ist der Übergang vom Lesen lernen zum selbstständigen Lesen. Das passiert bei den meisten Kindern ab der 3. Klasse. Das ist die Phase der kleinen Leseratten, die lustorientiert ganze Kinderbuchreihen verschlingen. In dieser Phase ist es aus der Forschungsperspektive völlig egal, was die Kinder lesen. Hauptsache sie lesen und sind begeistert. Wichtig sind dabei als Nebenprodukte Automatisierungsprozesse im Kompetenzerwerb der Leseflüssigkeit. In diese Phase fällt die Steigerung des Lesetempos, der Lesegenauigkeit und der Genauigkeit der Phrasierung.
In der Sekundarstufe wird diese Leseflüssigkeit vorausgesetzt. Kinder, die Leseprobleme haben, bekommen dann auch Schwierigkeiten im Fachunterricht. Wer nicht genau liest, kann auch keine Textaufgaben in Mathematik lösen.
Bibliotheken fördern in der Regel diejenigen, die freiwillig kommen und auf einem guten Weg sind. Das Problem von Bibliotheken ist, dass die Kinder, die eine besondere Förderung brauchen, nicht kommen. Da müssen sich vor allem Schulen und soziale Einrichtungen an die adressieren, die eben nicht kommen. Deshalb müssen wir Leseformate anbieten, die wirklich die schwachen Kinder fördern.
Es muss Kooperationen mit Migrantenverbänden usw. geben. Leider ist in Deutschland an dieser Stelle noch nicht viel Wirksames passiert.
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Außerdem gibt es eine mangelnde Passung zwischen den Interessen der Jungen und dem, was sie in der Schule als Lesestoff angeboten bekommen.
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Nicht alle Mädchen oder alle Jungen mögen die gleichen Bücher. Wir müssen in der Schule eine geschlechtergerechte, individualisierte Leseförderung betreiben. In dem Alter, in dem Lesekarrieren begründet werden, also zwischen acht und zwölf Jahren, sind die meisten Mädchen und Jungen extrem geschlechterstereotyp. Diese Entwicklung erfolgt im Modus der absoluten Abgrenzung. Dementsprechend sind die Geschmäcker in diesem Alter besonders weit auseinander. Man sollte das pragmatisch akzeptieren und nicht im Sinne einer falsch verstandenen emanzipatorischen Pädagogik ändern wollen.“