„Lernen und Geschlecht heute“
Markus Meier: „Lernen und Geschlecht heute
– Zur Logik der Geschlechterdichotomie in edukativen Kontexten“
Verlag: KÖNIGSHAUSEN & NEUMANN; 2015. 268 S.; ISBN/EAN: 9783826051012;
39,80 €
Eine Rezension von Dr. Bruno Köhler
Markus Meier studierte Deutsch, Geschichte, Philosophie und Musik und promovierte 2008 an der Universität in Frankfurt am Main zum Thema „Musikunterricht als Koedukation?“. Er ist heute Professor für Ciencias de Educación an der Universidad Externado in Bogotá in Kolumbien. Er befasst sich „seit mindestens einem Jahrzehnt mit dem Thema der ´gleichen Behandlung von (biologisch) Ungleichen´ im Bildungswesen“, wie Wolfgang Mitter im Vorwort zu dem Buch schreibt.
Der Autor beschreibt in seinem wissenschaftlichen Werk die Bildungssituation und Bildungsteilhabe von Jungen und Mädchen über die Jahrhunderte hinweg. Dazu holt er in 13 Kapiteln weit aus, um auch die Ursprünge, die Wurzeln jeweils existierender pädagogischer Ungerechtigkeiten und Bildungsunzugänglichkeiten hervorzuholen, neue Ansätze zu beleuchten und alte zu hinterfragen, wobei auch Randthemen tangiert werden. Markus Meier spannt dabei den Bogen von der Bildung und bildungstheoretischen Historie aus der Antike über Mittelalter, Reformation, Aufklärung, Frauenbewegung, Reformpädagogik, Nationalsozialismus, Nachkriegszeit, Bildungsreform bis zum PISA-Schock und dem Jungen benachteiligenden Bildungssystem unserer Tage. Er plädiert schließlich für eine moderne geschlechterspezifische Pädagogik, die auch die berechtigten Anliegen von Jungen ausreichend berücksichtigt.
Dass Jungen berechtigte Anliegen haben, bestätigen die PISA-Studien ebenso eindrucksvoll wie regelmäßig, insbesondere in den Bereichen Lese- und Sprachkompetenz. „Dieser Jungennachteil in der Sprachkompetenz ist dabei nicht nur besonders ausgeprägt, er ist darüber hinaus auch noch besonders gravierend, denn Kulturen, ´(fassen) den größten Teil ihres Wissens in Texte´“ (S. 95).
Allein Bildungspolitik und Geschlechterpädagogik wollen sich diesen Erkenntnissen nicht stellen. „Erziehungswissenschaftliche Reflektion wie pädagogische Praxis müssen die Tendenzen zur Marginalisierung des Segments junger Männer allgemein, junger Männer mit Migrationshintergrund im besonderen umkehren. Am Gelingen dieser Aufgabe werden Politik und Gesellschaft langfristig Geschlechterpädagogik zu messen haben und vermutlich messen“ (S.231). „[…] die Massenarbeitslosigkeit ist je länger je mehr ein Bildungsproblem (und darin v.a. ein Problem junger Männer)“ (S. 89). Denn „wie entscheidend wichtig es ist, dass eine Gesellschaft die Energie junger Männer in produktive Bahnen lenkt, kann man gar nicht zu übertrieben darstellen“ (S.129).
Neben Diskursen zur Psychoanalyse und Evolutionsbiologie werden die derzeitigen pädagogischen Schlüsselansätze wie Sozialisation und Konstruktivismus bis hin zum fragwürdigen Dekonstruktivismus, dessen „erklärtes ´Ziel einer nichtidentitären Jungenarbeit […] nicht der >andere Jungen<, sondern gar kein Junge´“ ist, erörtert (S. 145). Den ebenso spannenden wie tragischen Fall des Amerikaners David Reimer kritisiert der Autor als „ein Beitrag für eine noch zu schreibende, spannende ´Kriminalgeschichte der Pädagogik´“ (S. 90). Reimer hatte in Folge einer Beschneidung seinen Penis verloren und wurde kurzerhand als Mädchen erzogen. Obwohl der Fall manchmal sogar heute noch als Erfolgsgeschichte der Sozialisation verkauft wird, stürzte sowohl der Betroffene selbst, als auch sein Bruder in der Realität in eine tiefe Krise, als sie von diesem grausamen Experiment erfahren haben. Er konnte sich seelisch nie mehr stabilisieren. Sowohl er als auch sein Bruder begingen Selbstmord. „Die einseitige Orientierung an der Soziologie und deren Paradigmata verhindert die Reflektion und Anwendung von Ergebnissen anderer, jüngerer Disziplinen; dieses gilt im Hinblick auf die Geschlechterdichotomie insbesondere für die Soziobiologie“ (S.230f.).
Bei relativ neuen Zweigen wie Soziobiologie und Neurowissenschaften sieht der Autor neue pädagogische Ansatzpunkte zur Jungenbildungsförderung, z.B. im motivationalen Ansatz: „Kognitive Strategien hängen […] eng mit einer geschlechtstypischen Motivation zusammen. Deshalb ist z.B. grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Unfähigkeit und der Unwilligkeit, wobei Unwilligkeit mangels Übung langfristig zu einem Kompetenzdefizit werden kann. Es käme also auch auf eine geschlechtsbewusstere Methodik an, wenn Lerndefizite von Jungen im sprachlichen bzw. sprachverwandten Bereich behoben werden sollen“ (S.199). Und genau das ist ja genau der Ansatz des Jungenleseförderprojektes „Jungenleseliste“ von MANNdat e.V.
Besonders sympathisch ist dabei, dass Markus Meier Empathie für Jungen und deren Situation zeigt. Das ist leider selten in der geschlechterspezifischen Pädagogik: „Innerhalb der ´geschlossenen Systeme´ Schule und Hochschule haben Jungen und junge Männer wenig Möglichkeiten, ihre Situation zu artikulieren und ihre Anliegen durchzusetzen – auch wegen der Monopolisierung des Geschlechterthemas als ´Frauenthema´“ (S. 129). „Es fehlt in der pädagogischen Debatte der Ton einer weisen, positiven Lebenszugewandtheit für Jungen […]. Stattdessen ist ein vorwurfsvoller, ´männerskeptischer´ pädagogischer wie erziehungswissenschaftlicher Habitus inzwischen geradezu zum ´guten Ton´ in Geschlechterfragen avanciert“ (S.131).
Koedukation hält der Autor für problematisch, u.a. wenn man berücksichtigt, dass die Entwicklung von Jungen und Mädchen zeitlich unterschiedlich verläuft. „Diese Schere von zwei Jahren bedeutet aber, dass z.B. Koedukation während der Pubertät altersmäßig ´ungleichzeitig Gleichzeitige´ in einer Gruppe beschult“ (S. 157).
Im abschließenden Kapitel „´Was ist Aufklärung?´ – und kein Ende“ verbergen sich ein 12-Punkte-Katalog mit Vorschlägen, um die „Geschlechterdebatte von der monotonen moralistischen Redundanz zu befreien…“ (S. 229), sowie konkrete Ansätze zur Jungenbildungsförderung.
Aufgelockert werden die Ausführungen immer wieder durch Bildbetrachtungen zeitgenössischer Darstellungen oder Gemälde und durch die Analyse zweier aktueller pädagogischer Praxismappen, die die jeweiligen Geschlechterrollen und Geschlechterzuweisungen und das Verhältnis der Professionellen zu Jungen und Mädchen in den jeweiligen Epochen demonstrieren.
Abgerundet wird das Buch mit einem umfassenden Literaturverzeichnis, einem Verzeichnis der Abbildungen, Graphiken und Tabellen und schließlich einem Personen-, Sach- und Ortsregister.
Fazit
Mit der Frage nach den konkreten Ansätzen zur Beseitigung des signifikanten geschlechterspezifischen Bildungsgefälles zuungunsten der Jungen greift der Autor ein hoch aktuelles Thema auf. Das beweisen alle Bildungsstatistiken seit den 90er Jahren bis zu den PISA-Studien unserer Tage. Dass sich unsere Politik und Gesellschaft endlich mit dem Thema beschäftigen, tut not, denn „mehr als ¼ aller jungen Männer in Deutschland sind funktionell analphabet!“ (S. 104). Dabei kenne ich kaum ein anderes Buch, das insbesondere auf die problematische Bildungssituation von Jungen derart empathisch, aber gleichzeitig auch fachlich, wissenschaftlich eingeht, wie dieses.
Ich halte das Buch für ein wissenschaftliches Standardwerk zum Thema geschlechterspezifischer Pädagogik. Allein die 669 (!) Quellenangaben zeigen unzweifelhaft, dass es sich hierbei nicht nur um ein mit viel Herzblut des Autors geschriebenes Plädoyer für Jungen handelt, sondern auch um eine wissenschaftliche Studie. Markus Meier scheut dabei aber in einzelnen Punkten vor gerechtfertigter, weil fundierter Kritik an aktuellen Versäumnissen von Politik, Pädagogik und Gesellschaft nicht zurück.
Auch wenn vereinzelt eine Häufung von Fachausdrücken vorkommt, ist das Buch auch für Laien sehr gut lesbar. Das ist dem Umstand zu verdanken, dass der Autor die seltene Begabung besitzt, komplexe Sachverhalte pointiert und mit kurzen Sätzen zusammenfassend wiederzugeben. Deshalb ist das Werk auch für Leute geeignet, die in der geschlechterpolitischen Debatte unserer Zeit nicht nur passive, stille Zuhörer, sondern auch aktive, argumentative „Mit- und Einmischer“ sein wollen.
Die 39,80€ sind zwar ein stolzer Preis für ein Buch, aber für ein wissenschaftliches Werk wie dieses üblich und absolut lohnenswert.