Interview mit Sonhild Menzel

Vorlieben der Jungen nicht abwerten

MANNdat im Interview mit Sonhild Menzel, Städtische Bibliotheken Dresden

Sonhild Menzel wurde nach Ihrem Abitur und Studium Leiterin einer Stadtteilbibliothek in Dresden. Ab 1996 war sie Bereichsleiterin für Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit und ist seit 1990 als Lektorin für Kinder- und Jugendmedien verantwortlich für den Bestandsaufbau in den Städtischen Bibliotheken Dresden. Seit 2001 ist sie neben dem Lektorat auch Arbeitsgruppenleiterin zur Entwicklung und Umsetzung von Konzepten und Projekten der Leseförderung für Kinder und Jugendliche.

 Dr. Bruno Köhler (MANNdat): Sehr geehrte Frau Menzel, ist die Jungenleseaktion in den Bibliotheken in Dresden auf Dresden beschränkt oder gibt es eine landesweite Aktivität der Bibliotheken zur Jungenleseförderung?

Frau Menzel: Sachsenweite oder gar bundesweite Aktionen zur Jungenleseförderung wären sicher eine gute Idee, denn Kampagnen können wichtige Denkanstöße geben und zu Weichenstellungen führen. Die Aktivitäten zur Jungenleseförderung der Städtischen Bibliotheken Dresden allerdings bezogen sich nur auf  das Stadtgebiet, wo wir beispielsweise mit unserer Posteraktion der „coolen lesenden Jungs“ in Schaufenstern und Bibliotheksräumen viel Interesse und Aufmerksamkeit wecken konnten. Seit unserem Jahresthema „Man(n) liest“ im Jahr 2009 versuchen wir die männliche Leserschaft stärker anzusprechen und stadtweite Angebote für alle unsere 20 Filialen sowie die Haupt- und Musikbibliothek zu entwickeln.  Dabei ist es uns wichtig, dauerhafte und nachhaltige Veränderungen herbeizuführen.

 Die letzte PISA-Studie hat gezeigt, dass sich beim geschlechterspezifischen Lesekompetenzunterschied zuungunsten der Jungen auch nach neun Jahren nichts geändert hat. Warum tut man sich Ihrer Meinung nach so schwer in Sachen Jungenleseförderung?

Ich glaube dass es zunächst einmal wichtig war, die Leistungsunterschiede von Jungen und Mädchen in der Lesekompetenz zu dokumentieren. Dabei sind zentrale Befunde wie die von PISA und IGLU immer erst der Anfang einer Entwicklung, sozusagen der „Leidensdruck“, aus dem heraus neue Lösungen, Konzepte, Methoden und Angebotsformate entstehen. Auch musste wohl eine anfängliche Skepsis überwunden werden, dass es sich bei der notwendigen Jungenförderung nicht um eine neuerliche Welle weiblicher Benachteiligung handelt. Aber die Tatsache, dass mangelnde Lesekompetenz Ursache und Ausgangspunkt einer gravierenden Bildungsbenachteiligung von Jungen sein kann, hat inzwischen zu einer Fülle ermutigender Entwicklungen in den Bereichen Vorschule und Schule, Verlage, Buchmarkt und Bibliotheken geführt, deren positive Entwicklungen wir nach und nach sehen werden.

Was ist Ihrer Ansicht nach der wichtigste Ansatzpunkt zur Jungenleseförderung?

Wir dürfen u.a. in der Leseerziehung Jungen und Mädchen nicht mehr in einen Topf werfen, sondern brauchen jeweils die passenden Instrumente und Methoden. Der Schlüssel zum Erfolg liegt nach meiner Meinung nach darin, mehr zu wissen über geschlechterspezifische Entwicklungsbesonderheiten von Jungen und daraus resultierend mehr zu verstehen und  weniger zu kritisieren und zu korrigieren.

Lesebiographisch betrachtet ist natürlich die Familie oder ein lesendes Umfeld besonders wichtig, also frühes, kontinuierliches und gemeinsames Lesen, viel innerfamiliäre Kommunikation, lesende Vorbilder, am besten männliche. Wo das in der Familie nicht möglich ist, müssen Kindergarten, Vorschule und Bibliotheken rechtzeitig gegensteuern und hier die Jungen besonders in den Blick nehmen: Auf welchen Gebieten bringen sie ausgeprägte Interessen mit, womit kann man ihre Aufmerksamkeit fesseln, welche Themen finden sie spannend. Sachtexte, z.B. auch in zahlreichen hochwertigen Reihen, die an thematischer Vielfalt und inhaltlicher Qualität kaum mehr Wünsche offen lassen, werden von Eltern und Vermittlern gern unterschätzt, können aber meist ebenso vorgelesen, erzählt oder gemeinsam betrachtet werden wie Fiktionales. Bibliotheken halten hierfür ein umfangreiches und aktuelles Angebot zur Ausleihe bereit. Hier sollte auch der Junge von klein auf gewohnt sein, selbst zu stöbern und auszuwählen, damit Interessen geweckt werden und sich entwickeln können. Auch Neuentwicklungen auf dem Buchmarkt wie Ting und Tiptoi können hilfreich sein. Sie wecken Entdeckerfreude und Forscherdrang und vielleicht auch Lesefreude. Ting- und tiptoifähige Bücher werden deshalb gerade in unser Repertoire aufgenommen. Fazit: Lesen muss von Anfang an als etwas Abenteuerliche, Schönes und Spannendes erlebt werden, dann kann daraus so etwas wie ein tragfähiges Lesebedürfnis entstehen.

 Zur Info an die Leser: Ting und Tiptoi sind Kinderbilderbücher, die mit Lesestift angesehen werden können, mit dem man Audiodateien, wie kleine Texte oder Geräusche bei Antippen bestimmter Stellen im Buch aktivieren kann.

Kooperieren Sie im Bereich Jungenleseförderung mit den Schulen?

Die Zusammenarbeit mit Schulen ist in Dresden seit Jahren sehr eng, intensiv und auch von einigem Erfolg gekrönt. Das heißt aber auch, dass wir es naturgemäß – wie übrigens auch im vorschulischen Bereich – immer mit gemischten Gruppen zu tun haben. Aber auch hier können wir in der tagtäglichen Bibliotheksarbeit mehr zur Förderung männlicher Leseinteressen tun, als wir anfänglich für möglich hielten. Wir führen im Jahr an die 5.000 Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche in unseren Bibliotheken durch. Dabei werden alle Inhalte auch darauf überprüft, ob sie für Jungen von Interesse sind. Wir achten auf mehr männliche Vermittler in der Veranstaltungsarbeit und setzten Schwerpunkte in der Erwerbungspolitik und Beratung unserer Bibliotheken bei jungengeeigneten Büchern und Medien. Die Grundlage dafür ist ein in den letzten Jahren deutlich verbessertes Buchmarktangebot mit differenzierteren Lesestoffen für Jungen vom Bilderbuch bis zum Fantasy-Genre. Interessenkreisaufkleber für Jungen am Regal und am Buch sowie eine entsprechende Beschlagwortung im Katalog sollen den Zugang für die Zielgruppe und Multiplikatoren erleichtern.

Was können Sie anderen Bibliotheken empfehlen, um mit Schulen in Kontakt bezüglich Jungenleseförderprojekte zu kommen?

Infolge der anhaltenden Bildungsdiskussion gehören Bibliotheken vielerorts zu den wichtigsten Bildungspartnern von Schulen und sind oft vor Ort die leistungsfähigsten Leseförderer. Sie können Schulen daher auch auf diesem Gebiet beraten und sollten dies in Kommunikation und Angebotsstruktur entsprechend deutlich machen. Viele gute Beispiele aus der praktischen Arbeit gibt es dafür schon, angefangen bei Leserucksäcken für Jungen über Projekttage bis hin zu Elternabenden mit Schwerpunkt Jungenleseförderung. Aber das ist eben nicht nur eine Frage von Kampagnen und Einzelaktionen, sondern eine Daueraufgabe, die bei begrenzten Ressourcen für Bibliotheken nicht einfach umzusetzen ist.

Bei jüngeren Kindern sind der wichtigste Faktor der Jungenleseförderung die Eltern. Wie können es Bibliotheken schaffen, Eltern zu animieren, schon frühzeitig mit ihren Kindern regelmäßig die Bibliotheken zu besuchen?

Bundesweit gibt es ja die Kampagne der Stiftung Lesen „Lesestart“, die in diesem Herbst  erweitert in die zweite Runde geht. Hier werden junge Eltern systematisch angesprochen und in punkto Leseerziehung unterstützt. Bibliotheken sind Teil dieser Kampagne, sie verteilen u.a. Lesesets mit Bilderbüchern und Ratgebern an die Eltern. Die Städtischen Bibliotheken Dresden unterstützen diese breit angelegte frühkindliche Leseförderung auch mit weiteren flankierenden Maßnahmen. So gibt es regelmäßige Treffen von Eltern mit Kleinkindern in Bibliotheken, können sich Eltern mit Kindern unter 6 Jahren kostenlos in allen Bibliotheken anmelden und das Angebot nutzen. Das alles trägt dazu bei, vor allem auch buch- und leseferne bzw. sozial schwache Elternhäuser zu erreichen und ihnen die nötige Unterstützung zu geben. Für Vorschulkinder schließt sich bei uns dann das Projekt „Lesestark“ (www.lesestark-dresden.de) an, bei dem es um die Stärkung von Lesefreude durch regelmäßiges Vorlesen geht.

Was empfehlen Sie Eltern, um ihre Jungen in der Lesekompetenz zu stärken?

Günstig ist es natürlich immer, wenn Kinder männliche Lesevorbilder in der Familie erleben, wenn der Umgang mit gedruckten Materialien ganz selbstverständlich zum Alltag gehört. Dann sollte man frühzeitig in Buchhandlungen und Bibliotheken gehen und spezielle Vorlieben der Jungen wie Comics und Zeitschriften nicht abwerten. Auch andere Medienarten wie Verfilmungen von Harry Potter oder Gregs Tagebüchern können als Initialzündung zum nachträglichen Lesen genutzt werden. Und schließlich lässt sich auch der Computer lesefördernd nutzen, z.B. mit hochwertigen CD-ROMs und Lernspielen, die man kostenlos ausleihen kann.

Kennen Sie auch spezielle Väter-Jungen-Leseprojekte, die Sie empfehlen können?

Es gibt in einigen Großstadtbibliotheken Angebote auf diesem Gebiet, die ich allerdings nicht im Detail kenne.  

Als Jungenleseförderung erwähnen Sie auch Jungenleseclubs. Was ist darunter zu verstehen und welche Möglichkeiten gibt es, um Jungs für einen solchen Leseclub zu motivieren?

Wir experimentieren seit einigen Jahren in einer Stadtteilbibliothek mit einem solchen Jungenleseclub. Hier treffen sich Jungs zwischen 8 und 12 Jahren regelmäßig, um gemeinsam zu lesen, über Bücher zu reden, literarische Schauplätze im Internet zu recherchieren oder auch Buchtipps zu erstellen. Ein männlicher Bibliotheksmitarbeiter betreut das Projekt, das allen Beteiligten viel Spaß macht. Trotz vieler spannender Angebote rund ums Buch bleibt es jedoch schwierig, Jungen für einen solchen regelmäßigen Treff zu gewinnen und zu halten. Mädchen dagegen fragen häufiger nach einem entsprechenden Angebot.

Wäre es sinnvoll, wenn Bibliotheken am Boys-Day Praktikumsplätze anbieten würden und haben Sie so etwas vor?

Im Rahmen von Schülerpraktika bekommen immer mehr Jungen auch bei uns Einblicke in einen typischen Frauenberuf. Spezielle Boys-Day-Praktikumsplätze gibt es zwar bisher noch nicht, wir würden aber ein solches Anliegen gern unterstützen.

Gibt es neue Bücher für Jungs, die Sie empfehlen können?

Da gibt es viele und darüber sind wir auch sehr froh. Vielleicht an dieser Stelle nur ein paar wenige Beispiele für gutes, spannendes Lesefutter:
Im Bilderbuch:
Le Huche, Magali: Super-Edgar trotzt Wind und Wetter (Beltz & Gelberg)
Valckx, Catharina: Pfoten hoch (Moritz)
Schröder, Patricia: Anton und das Geheimnis im Finsterwald (cbj)

Zum Lesenlernen:
Geschichten für Jungs zum Lesenlernen (Klett)
Stevenson, Robert Louis: Die Schatzinsel (cbj), Reihe: Erst ich ein Stück, dann du

Sachbilderbuch:
Bagger, Traktor, Mauersegler (Moritz)
Till Eulenspiegels lustige Streiche (Betz), Reihe: Das musikalische Bilderbuch

Kinderbuch/Reihen:
Bertram, Rüdiger: Coolman und ich (Oetinger)
Lerangis, Peter: Die 39 Zeichen (cbj)
Stewart, Paul: Barnaby Grimes (Sauerländer)

Wir danken Ihnen für das Interview und die vielen neuen interessanten Informationen. Wir  wünschen Ihnen noch weiterhin viel Erfolg mit Ihren Jungenleseprojekten.