Interview mit Dr. Andreas Seidler – Wissenschaftler und Lehrer

„Lektüreangebote von Lehrer- oder Elternseite werden Jungen selten gerecht“

Dr. Andreas Seidler studierte Literaturwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Karlsruhe mit Studienabschluss Magister Artium (2003); Promotionsstipendium der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg; 2006 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Karlsruhe. 2006-2010 Lehrer für Deutsch und Ethik an verschiedenen Schulen; Lecturer am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln 2010/2011; seit 2011 Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. (Quelle)

Herr Dr. Seidler stand uns freundlicherweise für unseren Jungen lesen-newsletter für ein Interview zur Verfügung. Das Interview führte Dr. Bruno Köhler.

Sehr geehrte Herr Dr. Seidler, von politischer Seite haben wir letzt vernommen, dass Jungenleseförderung überflüssig sei, da es keine relevanten Lesekompetenzunterschiede zwischen Jungen und Mädchen gäbe. Allenfalls bei Jungen mit Migrationshintergrund oder bei Jungen aus sozial schwachem Milieu könne es eventuell geschlechterspezifische Lesekompetenzunterschiede zuungunsten der Jungen geben. Ist das so richtig?

Seidler: Nun, die PISA-Studie zeigt konstant über alle Erhebungen und alle teilnehmenden Länder hinweg, dass die Jungen in der Gruppe der gut und sehr gut Lesenden unterrepräsentiert sind und in der Gruppe der weniger kompetent Lesenden überrepräsentiert. Natürlich zeigen sich Kompetenzunterschiede auch, wenn die soziale Herkunft von Schülerinnen und Schülern betrachtet wird. Ich halte es jedoch für wenig hilfreich, die eine Problemlage gegen die andere auszuspielen.

Erste Erklärungsversuche bezüglich der schlechteren Leseleistung von Jungen nach dem „PISA-Schock“ 2000 klangen damals relativ hilflos. So glaubten manche z.B. sogar, dass die schlechteren Leseleistungen mit dem größeren „Hirnbalken“ der Jungs zu tun hätte, der es ihnen grundsätzlich nicht ermöglichen sollte, die gleichen Leseleistungen wie Mädchen zu erbringen. Ist die Wissenschaft da heute weiter? Wie erklärt man sich heute diese signifikant schlechtere Leseleistung der Jungen?

Ich glaube nicht an biologische Erklärungsansätze. Wenn ein solches körperliches Handicap vorliegen würde, müsste das ja heißen, dass sich kein Junge zu einem hoch kompetenten Leser entwickeln kann. Das stimmt aber auch nicht. Ich bin der Überzeugung, dass die im Durchschnitt geringere Lesekompetenz von Jungen schlicht daher kommt, dass sie weniger lesen als Mädchen. Dies wiederum lässt sich mit sozialen Ursachen erklären. Zentral ist wohl, dass Lesen – und vor allem das genussvolle Lesen in der Freizeit – weithin als weibliche Praxis erlebt wird. Daher wird es auch eher von Mädchen als von Jungen übernommen. Jungen befriedigen ihre Unterhaltungsbedürfnisse eher mit anderen Medien wie z.B. Computerspielen. Allerdings sollte der Computer deshalb aus Sicht der Leseförderung nicht unbedingt verteufelt werden. Tatsächlich wird ja auch am Computer viel gelesen. Untersuchungen zeigen z.B., dass Informations- und Nachrichtenportale im Internet häufiger von Jungen als von Mädchen genutzt. Ein weiterer Grund, warum Jungen weniger Literatur lesen besteht darin, dass die Lektüreangebote, die von Lehrer- oder Elternseite gemacht werden, den Interessen von Jungen oft nicht entsprechen.

Wir können in der Schulpraxis von Schule zu Schule häufig eklatante Unterschiede bei der Berücksichtigung jungentypischer Leseinteressen feststellen. Wie weit ist Jungenleseförderung bislang in der Lehrkräfteausbildung verankert?

Eine systematische Verankerung gibt es da bisher nicht. Es gibt nur einzelne Dozenten an den Hochschulen, die sich dieses Themas in ihren Lehrveranstaltungen annehmen.

Welche Rahmenbedingungen braucht eine effektive Jungenleseförderung in Deutschland?

Ich denke nicht, dass es dafür besonderer politischer Rahmenbedingungen bedarf. Wichtig ist, jedes Kind so gut wie möglich individuell zu fördern. Und zur Individualität gehört nun einmal auch die Geschlechtsidentität, die sich auswirken kann in bestimmten Leseinteressen und auch grundsätzlich in einem Selbstbild als Leser oder Nicht-Leser. Dafür müssen Lehrkräfte Sensibilität entwickeln, um ihre Schülerinnen und Schüler zu erreichen und Erfahrungen mit Literatur zu eröffnen.

Wie steht es mit der Jungenleseförderung im Ausland? Ist man da weiter?

Ansätze gibt es auch in anderen Ländern. Aber die mustergültigen Erfolgskonzepte, die man nur noch nach Deutschland importieren müsste, sehe ich noch nicht. Relevant ist das Thema aber in vielen Ländern. Ausgerechnet beim PISA-Seriensieger Finnland z.B. ist der Unterschied in der Lesekompetenz zwischen Jungen am Mädchen am stärksten ausgeprägt von allen Teilnehmerstaaten.

Finnland ist ja nächstes Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Wir können dann mal dort nachfragen, das dort geschieht. Wie wichtig sehen sie männliche Lesevorbilder für Jungenleseförderung?

Lesevorbilder sind von ganz zentraler Bedeutung. Alle Appelle an heranwachsende Jungen, doch endlich mal ein Buch zur Hand zu nehmen, helfen natürlich nichts, wenn der Vater gleichzeitig am Computer sitzt oder an der Modelleisenbahn baut.

Es gibt immer wieder Vorschläge, Mädchen und Jungen im Unterricht zumindest gelegentlich getrennt zu unterrichten. Glauben Sie, dass ein getrennter Unterricht, z.B. in Deutsch oder Fremdsprachen, zur Verbesserung der Lesekompetenz von Jungen beitragen könnte?

Ich meine nicht, dass es für erfolgreiche Leseförderung notwendig ist, Jungen und Mädchen getrennt zu unterrichten. Wichtig ist vielmehr, den unterschiedlichen Interessen unterschiedlicher Schüler entsprechende Leseangebote zu machen, die sie für sich selbst als ansprechend und bereichernd erfahren können.

An der Universität Köln wurde nun unter Leitung von Frau Prof. Christine Garbe ein Jungenleseförderprojekt „Boys & Books“ implementiert an dem Sie mitarbeiten. Was ist dies für ein Projekt und welches Ziel hat es?

Im Zentrum des Projekts steht die im Aufbau befindliche Website www.boysandbooks.de, die Eltern und Lehrern solche Bücher vorstellen will, die die Interessen heranwachsender Jungen auf verschiedenen Altersstufen berücksichtigen. Außerdem stellen wir erfolgreiche Leseförderprojekte aus Schulen und Bibliotheken vor. Wir freuen uns dabei übrigens immer über Tipps und Hinweise. Wer also bei den eigenen Söhnen oder als Lehrkraft in der Schule besonders gute Erfahrungen mit einem Buch gemacht hat, kann uns gerne kontaktieren.

Welche einfachen Tipps können Sie Eltern und Lehrkräften zur Jungenleseförderung geben?

Für die Schule ist es wichtig, ein differenziertes Lektüreangebot zu machen, das thematisch ein breites Spektrum bietet und auch unterschiedliche literarische Genres zulässt. Das bedeutet auch solche Bücher zu berücksichtigen, die nicht nur auf psychologisches Einfühlungsvermögen setzten und daher als pädagogisch wertvoll gelten, sondern auch Bücher, die Action und Spannung bieten und Schüler damit erst einmal für das Lesen gewinnen können.

Für Eltern ist die bereits genannte Vorbildrolle der Schlüssel. Wer gemeinsam mit seinen Kindern liest und über Gelesenes spricht, wird damit mehr erreichen als jeder Appell oder jede Ermahnung, die nicht vom eigenen Vorbild getragen werden. Besonders kontraproduktiv ist es übrigens, das Lesen als Mittel zum Zweck anzupreisen in dem Sinne, „Du musst in deiner Freizeit Bücher lesen, damit sich deine schulischen Leistungen verbessern.“ Damit wird ein nachhaltig positiver Zugang zum Lesen eher verbaut.

Welche Literatur hat Sie in Ihrer Kindheit fasziniert?

Ich habe als Kind gerne Krimireihen wie „Die drei ???“ gelesen. Später trat bei mir aber tatsächlich der untypische Fall ein, dass ich mich durch die Schule für die Lektüre der Klassiker begeistert habe. So kam es dann schließlich auch zum Germanistikstudium. Dahin müssen aber natürlich nicht alle geführt werden. Wichtig ist vielmehr, Lesen als genussvolle und persönlich bereichernde Tätigkeit kennen zu lernen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Projekt Boys & Books ist hier zu finden. Alle sind zur Mitarbeit herzlich eingeladen.