Interview mit Anne Scheller

Jungen dort abholen, wo sie stehen

MANNdat im Interview mit Kinderbuchautorin Anne Scheller

Anne Scheller wurde 1980 in Norddeutschland geboren. Nach Studium und Praktika, die sie teilweise auch in Großbritannien absolvierte, arbeitet sie seit 2007 als Autorin für verschiedene Verlage und Agenturen. 2010 promovierte sie zum Dr. phil. Sie spricht mehrere Fremdsprachen. Anne Scheller schreibt nicht nur Geschichten, sondern auch Sachbücher, Ratgeber und Lernhilfen. Ihre Schwerpunkte sind Sachunterricht, Geschichte, Sprache und Musik. Anne Scheller ist Autorin des Buches „Leseförderung für Jungen – Motivierende Unterrichtsmaterialien für die Jahrgangsstufen 2-4“, das wir im Newsletter nochmals explizit vorstellen. Wir danken ihr für die Bereitschaft für dieses Interview.

Dr. Bruno Köhler (MANNdat): Sehr geehrte Frau Scheller, Sie haben ein sehr gutes Buch mit Unterrichtsmaterialien „Leseförderung für Jungen“ geschrieben, dessen einziger Fehler lediglich der fehlende Verweis auf unsere Jungenleseliste ist;-) Sind die sozialisationstheoretischen Ansätze, die die schlechteren Schul- und insbesondere Leseleistungen der Jungen  ausschließlich durch die Vermittlung unterschiedlicher Rollenbilder durch die Umwelt erklären wollen, wirklich ausreichend, um die Lesekompetenzprobleme von Jungen zu erklären?

Dr. Anne Scheller: Nein, vermutlich nicht. Es gibt Studien, die belegen, dass Mädchen ein schnelleres Reifungstempo besitzen, d.h. sie erreichen bestimmte Entwicklungsstadien früher als Jungen. Dazu gehört u.a. die körperliche Kontrolle. Das bedeutet, dass es für Mädchen leichter ist, in der Lernumgebung Schule Erfolg zu haben, denn sie können einfach besser still sitzen und sich dabei konzentrieren. Für Jungen ist die Lernumgebung Schule dagegen eigentlich ungeeignet.

Das ist ein großes Problem. Was kann man tun, um die Schule etwas jungengerechter zu gestalten?

Nun, wenn Stillsitzen nicht so gut klappt, dann eben nicht! Das bedeutet: Jungen sollten sich bewegen dürfen und auch mal laut sein! Sie brauchen immer wieder Erfolgserlebnisse durch kleinere Teilabschnitte, Rätsel oder Aufgaben. In meinem Buch finden sich zahlreiche Übungen, die genau das umsetzen.

Welchen Tipp können Sie Lehrkräften geben, um Jungen stärker zum Lesen zu motivieren?

Ich glaube, es ist wichtig, die Jungen dort abzuholen, wo sie stehen. Das betrifft nicht nur die Themen, sondern auch die Textsorten und Textlängen. Dazu muss die Lehrkraft zuerst ein wenig forschen: Welche Textsorten (Comics, Sachtexte, Werbung etc.) sprechen meine Jungs an? Welche Themen mögen sie besonders (Ritter, Sport, Abenteuer usw.)? Wie lang sollte ein Text sein, damit sie die Lust am Lesen nicht verlieren? Dazu finden Jungs crossmediale Umsetzungen toll, also etwa Antolin oder das parallele Verfolgen von Hörbüchern.

Sie sind auch Autorin des Elternratgebers Schule und Lernen „Lesen in der Grundschule“. Welchen Tipp können Sie Eltern geben, um Jungen im Lesen zu fördern?

Zuhause gilt vor allem: Vorlesen und selber lesen. Denn Kinder lernen nun mal von Vorbildern. Es nützt wenig, wenn die Eltern ihrem Nachwuchs die schönsten Bücher kaufen, selber aber niemals etwas Gedrucktes in die Hand nehmen. Hier sind besonders die Väter gefragt: Männliche Vorbilder sind für die Jungs noch attraktiver als weibliche.

Was raten Sie Elternvertretern, wenn sie in ihrer Schule das Thema Jungenleseförderung voranbringen wollen, aber bei den Lehrkräften eher auf Skepsis stoßen?

Geschlechtergetrennte Förderung wird leider oft kritisch gesehen. Viele Menschen haben Angst, dass man damit uralte Rollenklischees (Frauen an den Herd, Männer in die Autowerkstatt) zementiert. Die Skeptiker sollten zunächst ernst genommen werden. Dann aber sollte man ihnen mit Argumenten entgegentreten. In meinem Buch liefere ich einige.

Welche Rolle spielen Bibliotheken bei der Jungenleseförderung und wie könnten diese die Jungenleseförderung unterstützen?

Bibliotheken sind großartige Leseorte, aber ich fürchte, dass dort vor allem die Kinder hingehen, die sowieso schon gut und viel lesen. Wirksam wäre sicherlich, wenn die Bibliotheken zu den Jungen hingehen: In die Schulen, die Horte, die Jugendzentren. Oder warum nicht mal eine Kooperation mit einem Sportverein? Ihr macht Sport, wir liefern die Lektüre dazu. Aber mir ist klar, dass das alles Geld und Ressourcen kostet.

In englischsprachigen Ländern sind Jungenbücher wie „Dangerous Book for Boys“ oder „Gregs Tagebuch“ Top-Bestseller. Warum tun sich die deutschen Verlage so schwer die Zielgruppe Jungen für sich zu entdecken?

Ein bisschen herrscht auch da sicher die Befürchtung, man würde als rückwärtsgewandt angesehen (s.o.). Aber das wird sich sicher noch ändern. Geben wir ihnen Zeit!

Sie haben auch das Sachbilderbuch „Germanen“ geschrieben, das wir in unseren Neuaufnahmen für die Jungenleseliste noch näher vorstellen. Halten Sie die Nutzung von Sachbüchern auch im Deutschunterricht für eine gute Möglichkeit zur Jungenleseförderung?

Definitiv! Jungen haben oft eine stärkere Affinität zu Sachtexten. Das darf und sollte man im Unterricht ausnutzen.

Welches Ihrer Bücher können Sie für Jungen besonders empfehlen?

Zum Beispiel die Germanen! Es enthält auch ein Hörspiel, das die Hörer in die Germanenzeit entführt. Das ist auch ein guter Weg, Jungen ohne Anstrengung zum Lesen hinzuführen.

Für weniger geübte Leser eignet sich auch der Lesespaß mit Lola, denn er beginnt mit ganz kurzen Wörtern, Sätzen und Geschichten und steigert sich dann langsam zu ausführlicheren Erzählungen. Und tolle Bilder der Illustratorin Yo Rühmer sind auch dabei.

Jungen entwickeln sich in den Bereichen Motorik und Sprachfähigkeit tendenziell langsamer. Wäre das auch ein Thema, über das Sie ein Buch schreiben wollten?

Moment konzentriere ich mich eher auf den Bereich Sachbücher und Geschichten als auf den Bereich Schule und Lernen. Denn das macht mir einfach viel Spaß!

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Ich schreibe dieses Jahr noch ein Kinder-Sachbuch und einen Mädchenroman. Ein paar kleinere Projekte stehen auch noch an. Leider darf man immer nichts Näheres verraten!

Wir danken Ihnen für das Interview und wünschen Ihnen noch weiterhin viel Erfolg mit Ihren Büchern.

Herzlichen Dank!