Gute Literatur muss über das erzählen, was den Menschen ausmacht
Interview Interview mit Gunnar Kunz
Gunnar Kunz ist geboren 1961 in Wolfenbüttel, Niedersachsen. Nach Abitur und Zivildienst war er 14 Jahre als Regieassistent, später auch Regisseur an Theatern in Braunschweig, Schwedt/Oder, Hamburg und Berlin beschäftigt wobei er sich zwischendurch mehrere Jahre in Schottland aufhielt. Seit 1997 ist er freier Autor (Romane, Theaterstücke, Musicals, Hörspiele, Liedertexte in Deutsch und Englisch und mehr). Gelegentlich arbeitet er auch als Illustrator (CD-Booklets, Theaterplakate, Jugendbuchillustrationen) und Cartoonist (Satiremagazin „Eulenspiegel“). Gunnar Kunz war nominiert für den Literaturpreis Wartholz 2010, erhielt den Shortlist Samiel Award 2014 und ein Autorenstipendium „Tatort Töwerland“ auf Juist 2015.
Das Interview führte Dr. Bruno Köhler von www.jungenleseliste.de
Dr. Köhler: Sie sind Buchautor, Illustrator, waren auch Regisseur, schreiben Romane, Theaterstücke, Musicals, Hörspiele und Liedertexte. Warum ist es für Sie so wichtig, Ihre Ideen und Anliegen in dieser Vielfalt von Medien Kontur zu geben?
Gunnar Kunz: In erster Linie bin ich Autor, alles andere mache ich nur in Ausnahmefällen. Was die verschiedenen Medien und Genres meiner Texte betrifft – jede Geschichte braucht ihre eigene Ausdrucksform und ihren eigenen Raum. Ich versuche, darauf zu hören, wonach die Geschichte verlangt.
Welchen Vorteil gegenüber anderen Medien und Ausdrucksweisen hat das Buch – für den Schreiber, als auch für den Lesenden?
Ein Buch geht tiefer als jedes andere Medium. Ein Film, ein Theaterstück, ein Hörspiel muss sich auf Andeutungen und Schlüsselszenen beschränken, schon aus Zeitgründen. Ein Buch lässt einem mehr Raum, um die Persönlichkeit der Figuren zu ergründen. Außerdem kann ich in einem Buch deren Gedanken und Gefühle, auch das Ungesagte, das, was zwischen den Zeilen steht, viel stärker zum Thema machen.
Hinzu kommt, dass ein Buch die geschlossene Vision eines Autors darstellt, während Film, Theaterstück oder Hörspiel immer eine Gemeinschaftsarbeit sind, der Text ist dort nur der Ausgangspunkt, von dem aus sich Schauspieler und Regisseure die Geschichte zueigen machen.
Glauben Sie, dass das Buch im Zeitalter des Computers bei jungen Lesern überhaupt noch eine Chance hat?
Auf jeden Fall. Es wird ja nicht weniger gelesen als früher, nur anders. Viel digital, natürlich. Aber wenn man junge Menschen mit einem Stoff überzeugt, sind sie begeisterte Buchleser, denken Sie an den überwältigenden Erfolg von „Harry Potter“. Es wäre allerdings zu wünschen, dass Kinder so früh wie möglich ans Lesen herangeführt werden, auch durch das positive Beispiel lesender Eltern, und dass speziell Jungen in der Schule in ihrer Lesekompetenz gefördert werden. Bibliotheken zu schließen, wie es überall üblich geworden ist, ist jedenfalls das falsche Signal durch die Politik.
Ihre zeitlich präferierte Epoche in Ihren Kriminalromanen ist die Weimarer Republik. Warum ausgerechnet diese Zeit?
Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist es einfach eine spannende Zeit, wegen der Gegensätze, die da unmittelbar aufeinanderprallten: auf der einen Seite die Freiheiten, die plötzlich möglich waren, auf der anderen Seite die verknöcherten Strukturen aus der Kaiserzeit.
Außerdem glaube ich, dass die Bedeutung der Weimarer Republik für uns kaum überschätzt werden kann. Dort liegen die Wurzeln unserer Demokratie. Ohne ein Verständnis dieser Zeit kann man auch den Nationalsozialismus nicht wirklich verstehen. Leider wird diese Epoche im heutigen Schulunterricht genauso oberflächlich durchgenommen wie zu meiner Schulzeit. Es ist mir daher auch ein Anliegen, die Weimarer Jahre heutigen Lesern nahezubringen.
Wenn man seine Protagonisten in der Zeit der Weimarer Republik spielen lässt, muss natürlich für die damalige Zeit alles stimmig sein. Wie viel Zeit nimmt die Recherche für einen historischen Roman in Anspruch?
Viel. Mindestens so viel wie das eigentliche Schreiben. Ich recherchiere akribisch und auf mehreren Wegen parallel. Zum einen natürlich im Internet. Dort habe ich schon tolle Sachen gefunden, Dissertationen, auch Videoclips, die mir beispielsweise den Zusammenbau eines Mikiphones (kleines tragbares Grammophon) gezeigt haben. So etwas ist klasse. Dennoch muss ich an dieser Stelle immer wieder klar sagen: Wer bei einer Recherche in die Tiefe gehen will, kommt nicht um Bücher herum. Die Bibliothek ist immer noch mein bevorzugter Rechercheort. Eine weitere, vielleicht meine wichtigste Quelle sind Tageszeitungen von damals. Und schließlich gibt es noch die themenspezifische Recherche, etwa im Zeppelinmuseum und -archiv für meinen Roman „Zeppelin 126“, Interviews mit Zeitzeugen und Fachleuten etc.
Haben Sie schon einen besonderen Aha-Effekt bei Ihren Recherchen erlebt?
Immer wieder. Häufig muss ich mich im Detail mit kuriosen Fragen auseinandersetzen: Gab es damals schon öffentliche Fahrradständer? Führerscheine? Falsche Wimpern?
Vor allem aber lerne ich, Zusammenhänge zu verstehen, und sehe vieles klarer. Erst durch meine Recherche habe ich begriffen, wie verkürzt einem vieles in Schule und Medien vermittelt wird. Zum Beispiel, dass die Totengräber der damaligen Demokratie keineswegs ein monolithischer Block und auch nicht alle konservativ waren. Im Gegenteil, die Freikorps, um eine der wichtigsten antidemokratischen Gruppierungen zu nennen, wollten alles andere als den Kaiser wiederhaben und sahen sich daher auch nicht als Reaktionäre, sondern als Revolutionäre. Das ist wichtig zu wissen, wenn man Geschichte verstehen will.
In Ihrem neuen Roman „Ausgeleuchtet“ sind die Brüder Lilienthal und Diana Escher wieder auf Mördersuche. Um was geht es darin?
Das Buch spielt im Deutschen Theater Berlin, und ich konnte darin die Erfahrungen meiner eigenen vierzehnjährigen Theatervergangenheit (überwiegend als Regieassistent) verarbeiten. Kurz gesagt: Während der Streit um eine mögliche Enteignung der Fürsten das Land spaltet, wird im Deutschen Theater während der Proben zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ eine Schauspielerin ermordet. Wobei unklar ist, ob der Anschlag wirklich ihr oder einer Kollegin galt. Meine drei Protagonisten stellen bald fest, dass der Liebeswahn auf der Bühne seine Entsprechung im wirklichen Leben hat. Und ein weiterer Anschlag macht ihnen klar, dass sie sich beeilen müssen, wenn sie nicht noch einen Mord beklagen wollen.
Ihre Krimireihe aus der Zeit der Weimarer Republik läuft in chronologischer Reihenfolge fort – 1920, 1922, 1923, 1924 und jetzt 1926. Haben Sie sich damit bewusst ein Schaffenspensum und ein Ende für die Reihe gesetzt?
Mit der Serie möchte ich eben auch die Geschichte der Weimarer Republik erzählen, und zwar bis zum Ende. Allerdings werde ich nicht mit 1933 aufhören, sondern mit 1934, um deutlich zu machen, warum Hitler nicht einfach bei der nächsten Wahl wieder abgesetzt werden konnte. Aller Voraussicht nach wird die Serie daher am Ende zwölf Bände umfassen.
Mein Sohn hat Ihr Buch „Inflation“ mit seinen erst einmal 13 Jahren begeistert gelesen. Er hat es geradezu verschlungen. Sind geschichtliche Themen generell geeignet, Kinder, insbesondere auch Jungen, zum Lesen motivieren?
Wenn ich vor Schülern lese, erlebe ich immer wieder großes Interesse, sobald sie Geschichte auf eine spannende Weise nahe gebracht bekommen. Von daher, ja, das ist auf jeden Fall eine gute Möglichkeit.
Eine weitere große Leidenschaft von Ihnen sind Märchen. Sind Märchen, insbesondere klassische Märchen, heute noch geeignet, das Leseinteresse von Kindern, insbesondere von Jungen zu wecken?
Dass sich Märchen seit Jahrhunderten ununterbrochener Beliebtheit erfreuen, trotz ihrer scheinbar so unmodernen Sujets, und dass ihre Motive über die ganze Welt verbreitet sind, kommt nicht von ungefähr. Märchen beschreiben innerseelische Vorgänge und erzählen in Bildern und Metaphern von Reifungsprozessen, vom Erwachsenwerden, von archetypischen Erfahrungen, die einem Menschen im Laufe seines Lebens auf den verschiedenen Entwicklungsstufen begegnen. Auf diese Weise helfen sie Kindern, sich mit den Problemen des Lebens auseinanderzusetzen, und fördern die Zuversicht, dass auch die größten Schwierigkeiten überwindbar sind.
Nichts kommt der Kraft der Märchen und Mythen gleich, was wir schon daran sehen können, dass das klassische Motiv der Heldenreise in immer neuen Abwandlungen auch in modernen Medien verwendet wird. Die den Märchen zugrunde liegenden Themen sprechen auch heute noch die Menschen an, nicht nur Kinder, daran besteht kein Zweifel. Ich erlebe es jedes Mal, wenn ich vor Grundschulklassen aus meinem Märchenbuch „Ein Koffer voller Wunder“ lese. Ich glaube, man kann Kindern keinen größeren Gefallen tun und sie nicht besser auf das Leben vorbereiten, als wenn man sie mit Märchen bekannt macht (in ihrer ursprünglichen Form, nicht in den verkitschten Film- und Fernseh-Versionen).
Was halten Sie davon, klassische Märchen und Jugendbuchklassiker in politisch korrekte Sprache zu „übersetzen“?
Zunächst einmal möchte ich unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Arten von Eingriffen, die meist vermengt werden. Im Zuge der politischen Korrektheit werden nämlich auch „veraltete“ Ausdrücke ausgemerzt, die Kinder und Jugendliche angeblich nicht verstehen. Das bedeutet in meinen Augen nichts anderes, als die Leser zu unterfordern, Literatur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren und Sprache zu verarmen. Unbekannte Wörter lassen sich problemlos aus dem Zusammenhang erschließen und bereichern den Sprachschatz. An alten Wörtern hängen Wurzeln, das spürt man. Ich selbst muss mich ständig der Versuche aus Lektoraten erwehren, lebendige Sprache auf standardisiertes Schulbuchdeutsch zu reduzieren. Dem liegt, neben allem anderen, auch ein herablassender Blick auf Kinder und Jugendliche zugrunde, dem ich mich nicht anschließen möchte.
Von politischer Korrektheit, wie sie sich heute darbietet, halte ich nichts. Die ursprüngliche Idee, Rücksicht auf Minderheiten zu nehmen, war sicher gut, ist aber leider mittlerweile zum Meinungsdiktat und Opferwettbewerb verkommen. Was diesbezügliche Eingriffe bei Büchern betrifft, möchte ich dennoch ungern pauschalisieren. Es mag Bücher geben, bei denen es gerechtfertigt ist, korrigierend einzugreifen. Die Werke solch menschenfreundlicher und weltoffener Autoren wie Otfried Preußler und Astrid Lindgren gehören sicher nicht dazu.
Ansonsten kann ich nur den britischen Komiker John Cleese zitieren, der sinngemäß gesagt hat, wenn man die empfindlichsten Gemüter die Regeln in einem Land bestimmen lässt, erhält man am Ende eine neurotische Gesellschaft.
Was braucht es nach Ihrer Meinung als Autor, um insbesondere Jungen zu besserer Lesemotivation und Lesekompetenz zu verhelfen?
Es gibt natürlich Themen, die Jungen mehr ansprechen als Mädchen und umgekehrt. Aber das, was wirklich wichtig ist und worum es meiner Meinung nach in der Literatur gehen sollte, nämlich um das, was den Menschen ausmacht, um die großen Fragen – Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Wie kann ich meinen Idealen treu bleiben? –, ist von universellem Interesse und spricht alle an.
Wenn man ehrlich aus seinen Figuren heraus erzählt, muss man sich nicht besonders verrenken, um den richtigen Ton zu treffen, egal ob es sich um weibliche oder männliche Figuren handelt. Und ich bin überzeugt davon, dass diese Ehrlichkeit von den Lesern honoriert wird. Wichtig ist, seine Figuren nicht zu denunzieren, sondern ihnen Verständnis entgegenzubringen. Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung sind Helden mit Schwächen und Fehlern sehr wohl für Jungen attraktiv, solange diese Helden nicht vom Autor verraten und abfällig behandelt werden.
Beispielsweise erscheint im kommenden Frühjahr der erste Band einer Fantasytrilogie von mir mit einer männlichen und einer weiblichen Hauptfigur, die sich beide in tiefe Schuld verstricken. Es geht in der Geschichte eben gerade darum zu lernen, die rechte Wahl zu treffen, seine Bestimmung zu finden und anzunehmen und nicht zuletzt um den Mut, trotz aller Schwierigkeiten und Verfehlungen das Leben und die Liebe zu wagen. Das ist es, was Jungen wie Mädchen schätzen: zu lesen, wie man sich trotz aller Schwierigkeiten behauptet, ohne sich zu verbiegen.
Welches ist Ihr Lieblingsbuch, außer eines Ihrer eigenen natürlich?
Ein regelrechtes Lieblingsbuch habe ich nicht. Übrigens auch keine Vorbilder, wie manchmal gefragt wird. Ich habe immer die Geschichten schreiben wollen, die ich gern gelesen hätte, aber nirgends fand. Ich kann nur sagen, was mich geprägt hat. Als Kind waren das Volksmärchen, „Pu, der Bär“ und Tove Janssons Mumin-Bücher, später Klassiker wie „Das Dschungelbuch“ und „Der Graf von Monte Christo“. Als Jugendlicher haben mir die Hörspiele von Günter Eich, die Theaterstücke von Friedrich Dürrenmatt und die Science-Fiction-Kurzgeschichten von Theodore Sturgeon buchstäblich neue Welten eröffnet. Ich bedauere sehr, dass die Kunst der Kurzgeschichte heute im Gegensatz zu meiner Jugendzeit kaum noch gepflegt wird.
Ich war immer ein Vielleser, der alles Mögliche verschlungen und sich nicht darum geschert hat, ob irgendein Gralshüter der Literatur darüber die Nase rümpft. Irgendjemand – Brian Aldiss? – hat mal sinngemäß gesagt, er habe nie verstanden, weshalb die Lektüre von Shakespeares Sonetten einem das Vergnügen an Comics verderben sollte. So sehe ich das auch. Ich fand diese typisch deutsche Unterscheidung zwischen E und U, zwischen Literatur und Unterhaltung immer albern.
Heute lese ich viele Sachbücher, beruflich bedingt, aber das macht mir auch Spaß, und ich lerne unendlich viel daraus. Daneben immer noch alles kreuz und quer, was mir in die Finger fällt: gern Genreliteratur, vor allem Thriller und Fantasy, immer mal wieder probiere ich aus, was das überregionale Feuilleton an „gehobener Literatur“ empfiehlt, und bin in der Regel jedes Mal aufs Neue enttäuscht.
Gute Literatur muss für mich leidenschaftlich sein und etwas über das Leben erzählen, über das, was den Menschen ausmacht. Zwanzig Seiten Beschreibung, wie jemand eine Kaffeetasse zum Mund führt, von Feuilleton regelmäßig mit dem Lob beklatscht, der Autor sei ein guter Beobachter, zelebriert in meinen Augen lediglich innere Leere. Damit werden wir gewiss keine jungen Menschen, die noch voller Kraft und Lebenslust stecken, zum Lesen verführen.
Vielen Dank für das Interview.
Wenn Sie mehr über Gunnar Kunz und seine vielfältige Arbeit erfahren möchten, empfehlen wir seine Homepage http://www.gunnarkunz.de/