Bibliothekare unerwünscht?

Jungen als Bibliothekare – offener Brief an den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Herrn Kretschmann (Die Grünen)

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

„Jungenleseliste“ ist ein bundesweites Jungenleseförderprojekt und mittlerweile auch über die Grenzen bis ins deutschsprachige Ausland bekannt. Sie, als Schirmherr des Projektes „Kicken & Lesen“, wissen, wie wichtig Jungenleseförderung ist. Nirgends sind die geschlechterspezifischen Kompetenzunterschiede so groß wie im Bereich Lesekompetenz. Der Gender Reading Gap zuungunsten der Jungen ist innerhalb der letzten 15 Jahre sogar signifikant gestiegen und beträgt für 15-Jährige mittlerweile mehr als ein ganzes Schuljahr. Ein Viertel der jungen Männer in Deutschland sind funktionale Analphabeten. Und das in einem Land, in dem Bildung der wichtigste volkswirtschaftliche Faktor darstellt. Sie werben gerade im Landtagswahlkampf mit dem Slogan „Wissen ist unser Kapital.“

Wir sind auch immer im Rahmen des Boys´ Days aktiv und werben für Boys’ Days-Plätze im Bereich der Bibliotheksverwaltung, Büchereien und Buchhandlungen, weil auch das eine gute Möglichkeit ist, Jungen Bücher näher zu bringen. Nun mussten wir über verschiedene Eltern aus Baden-Württemberg erfahren, dass in Baden-Württemberg eine Sonderregelung für den Boys’ Days gilt. In Baden-Württemberg darf der Boys’ Day nur in Organisationen und Institutionen im sozialen, pflegerischen, erzieherischen und gesundheitlichen Bereich durchgeführt werden. Damit dürfen von Jungs noch nicht einmal 50% der weit über 200 Berufsfelder, in denen Männer unterrepräsentiert sind, an diesem Tag besucht werden. Die Landesregierung sieht sich mit dieser Einschränkung dabei stolz als Vorreiter.

Dies verwundert, klagt Kultusminister Stoch doch in seinem Brief zur Ankündigung des Girls´& Boys’ Days 2016, dass viele Mädchen immer noch Friseurin, Medizinische Fachangestellte und Bürokauffrau werden würden, ohne ihr ganzes Potential auszuschöpfen. Dabei dürfen umgekehrt zwei dieser drei von ihm genannten Berufe, Friseur und Bürokaufmann, von Jungs am Boys’ Day in Baden-Württemberg gar nicht besucht werden, sollen also „Frauenberufe“ bleiben.

2009 war ein solches eingeschränktes Boys’ Day-Angebot sicherlich noch fortschrittlich, denn bis 2011 wurden Jungen bundesweit noch aus dem Zukunftstag ausgegrenzt. Nur Niedersachsen und Brandenburg waren damals fortschrittlich genug, unter geschlechterspezifischer Förderung auch Jungenförderung zu verstehen. 2009 hat die Landesregierung von Baden-Württemberg also mit diesen speziellen Berufsgruppen den Zukunftstag auch für Jungen geöffnet. Heute ist diese Eingrenzung auf lediglich etwa 50% der „Frauenberufe“ aber nicht mehr zeitgemäß und führt dazu, dass das Potential des Boys’ Days nicht ausgeschöpft wird.

Wir finden es sehr bedauerlich und sind überrascht, dass ausgerechnet eine grün-rote Regierung, von der man nicht nur mehr Offenheit sondern sogar eine Vorreiterrolle für neue Rollenbilder für Jungs erwartet, immer noch die größten Probleme mit dem männlichen Friseur, Bibliothekar, Buchverkäufer, Event-Manager und Verwaltungsmann hat.

Sehr geehrter Herr Kretschmann, schaffen Sie die Einschränkung der Möglichkeiten für Jungen am Boys’ Day ab! Wagen auch Sie es, den männlichen Bibliothekar, den männlichen Verwaltungsangestellten und männlichen Friseur zu denken!

Mit freundlichen Grüßen

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